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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Dann trocknete ihr der Mund aus, und in ihrem Innern regte sich das eigentümliche Winden. Erst als auch das Rauschen einsetzte, wie von Meereswellen, begann sie zu singen, und als sie das letzte Wort gesungen hatte, hörte alles auf.
    Sie entfernte ihre Augenbinden und sah, in der Helligkeit blinzelnd, ohne jede Überraschung, dass es Finn schon wieder getroffen hatte.
    Wie aus weiter Entfernung hörte sie die Stimmen der Erwachsenen, die ihnen zuschauten, und in noch weiterer Ferne vernahm sie Donnergrollen, doch sie hatte nur Augen für Finn. Jedes Mal kam er ihr einsamer vor, sie wäre traurig gewesen, aber alles schien so sehr vom Schicksal bestimmt, dass Trauer nicht angemessen war, auch keine Überraschung. Sie wusste nicht, worum es sich bei dem Längsten Weg handelte und wohin er führte, aber sie wusste, dass er Finn bestimmt war und dass sie ihn auffordern musste, ihn zu nehmen.
    Im weiteren Verlauf des Nachmittags wurde sie aber doch noch überrascht. Gewöhnliches Volk pflegte nicht ins Heiligtum der Mutter zu gehen, ganz gewiss jedoch nicht auf ausdrücklichen Wunsch der Hohepriesterin selbst. Sie kämmte sich das Haar und zog ihr einziges Festkleid an; ihre Mutter befahl es ihr.
    *
    Wenn Sharra nun vom Falken träumte, war er nicht länger allein am Himmel über Larai Rigal. Die Erinnerung brannte in ihrem Innern wie ein Feuer unter den Sternen.
    Andererseits war sie die Tochter ihres Vaters, Erbin des Elfenbeinthrones, und deshalb hatte sie sich mit einer gewissen Sache zu befassen, ungeachtet der Feuer in ihrem Herzen und der Falken am Himmel.
    Devorsh, Hauptmann der Wache, den sie zu sich befohlen hatte, klopfte an ihre Tür, und die stummen Diener ließen ihn ein. Ihre Hofdamen raunten einander hinter bebenden Fächern zu, als der hochgewachsene Hauptmann sich verneigte und mit einer unverwechselbaren Stimme seine Huldigungen vorbrachte. Sie entließ die Frauen, deren Enttäuschung ihr Vergnügen bereitete, und wies ihm einen niedrigen Sitz am Fenster zu.
    »Hauptmann«, begann sie ohne lange Umschweife, »ich habe von gewissen Dokumenten Kenntnis erhalten, die eine Angelegenheit zur Sprache bringen, mit der wir uns, denke ich, beschäftigen müssen.«
    »Hoheit?« Er sah gut aus, das gestand sie ihm zu, aber er war kein großes Licht, kein großes Licht. Er würde nicht verstehen, warum sie jetzt lächelte; nicht, dass es darauf angekommen wäre.
    »Allem Anschein nach sprechen die Aufzeichnungen in den Archiven von steinernen Haltegriffen, die vor vielen Jahren in die Felswand über dem Saeren gehauen wurden, direkt nördlich von uns aus gesehen.«
    »Oberhalb des Flusses, Hoheit? In der Felswand?« Höfliche Ungläubigkeit schlich sich in seine raue Stimme ein.
    »So sagte ich wohl, ja.« Er errötete ob dieses Tadels; sie machte eine kunstvolle Pause, um ihn wirken zu lassen. »Sollten diese Handgriffe existieren, stellen sie eine Gefahr dar, und wir täten gut daran, über sie Bescheid zu wissen. Ich will, dass du zwei Männer bestimmst, denen du vertraust, und nachsiehst, ob es der Wahrheit entspricht. Aus nahe liegenden Gründen« – von denen ihr allerdings keiner bekannt war – »ist hierüber strengstes Stillschweigen zu bewahren.«
    »Ja, Hoheit. Wann soll ich –«
    »Natürlich sofort.« Sie erhob sich, und er musste es ihr gleichtun.
    »Wie meine Herrin befiehlt.« Er verneigte sich und wandte sich zum Gehen.
    Und wegen der Falken, wegen der in Mondlicht gebadeten Erinnerungen, rief sie ihn noch einmal zurück. »Devorsh, noch eins. Vorgestern Nacht habe ich im Garten Schritte gehört. Hast du in der Nähe der Mauern irgendetwas bemerkt?«
    Sein Gesicht sprach von echter Besorgnis. »Hoheit, ich war ab Sonnenuntergang dienstfrei. Bashrai hat mein Kommando übernommen. Ich werde unverzüglich mit ihm darüber sprechen.«
    »Dienstfrei?«
    »Ja, Hoheit. Wir wechseln uns ab, Bashrai und ich, mit dem Kommando über die Nachtwache. Er ist ausgesprochen tüchtig, würde ich meinen, aber wenn –«
    »Wie viele Männer gehen des Nachts auf den Mauern Patrouille?« Sie stützte sich auf die Lehne eines Stuhls; hinter ihren Augen rauschte das Blut.
    »Zwölf, Hoheit, in Friedenszeiten.«
    »Und die Hunde?« Er räusperte sich. »Ah, nein, Edle Herrin. In letzter Zeit nicht.
    Man hielt es für nicht erforderlich. Sie sind in diesem Frühjahr und Sommer zur Jagd eingesetzt worden. Euer Vater weiß natürlich davon.« Sein Gesicht war von offenkundiger Neugier geprägt. »Sollte meine Herrin

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