Silbermuschel
schreie!«
»Hier? Vor all diesen Leuten?« Er lachte, heiser und wütend. »Das glaubst du ja wohl selbst nicht. Nimm dir ein Beispiel an mir. Lächle, verdammt noch mal! Tu so, als hätten wir eine Verabredung. Und überhaupt, was stehen wir hier herum?
Können wir uns nicht setzen? Oder an die Bar gehen? Vielleicht möchtest du einen Drink haben, während wir – ein wenig plaudern.«
»Was willst du von mir?«
180
»Keine Angst, Baby! Ich verfolge dich nicht mehr mit… unsittlichen Anträgen.
Ich will nur die Kassette.«
Der Botschafter und der Präsident der Handelskammer waren schon weg. Die Kellner räumten das Geschirr ab, löschten die Kerzen, falteten die Tischdecken zusammen.
»Welche Kassette?«
»Tu nicht so scheinheilig«, sagte Michael. »Die Videokamera lief doch noch, als das Erdbeben kam. Eine verdammt unangenehme Sache. Passiert ja immer wieder in diesem lausigen Land. Ich war ein paar Minuten – na gut. Die Kopfwunde hier, die mußte genäht werden. Drei Zentimeter tiefer, und ich hätte ein Auge verloren. Und was war mit dir, du kleines Biest? Ob ich verletzt war und verblutete, ließ dich wohl völlig kalt. Alles, wonach dich verlangte, war…«
… wegzulaufen, ja. Die Erinnerung war wieder da, die Bilder fügten sich zusammen. Wie Abschnitte aus einem Film, die, obwohl Lücken zwischen ihnen klafften, immer noch genug zeigten. Aufstehen, rückwärts schreiten. Jetzt schnell die Kassette nehmen. Vorsichtig und geschickt, damit er nichts merkt. Dann die Tür auf. Verschwinden. Eine lange Treppe hinunter. Mein Bild im Spiegel. Die blutende Wunde am Hals.
»Und wo ist die Kassette?«
Mein Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen.
»Ich weiß es nicht.«
»Lüge mir nichts vor«, zischte er. »Und mach nicht ein solches Gesicht, man beobachtet uns. Du hast die Kassette. Wer denn sonst? Die Mama-san, dieses Miststück, drohte mir mit der Polizei. Angeblich hatte ich die Spiegel zerschlagen.
Ohne Kassette konnte ich ihr nicht beweisen, daß ich es nicht war. Ich mußte mein Scheckbuch herausrücken.«
Die Kerzen schwammen vor meinen Augen. Die Luft wurde dichter, erstickender. Noch hatte ich die Fäden in der Hand, aber gleich würde es zu spät sein. Gleich würde dieses da – ja was? – tief in mir genau wissen, was es zu tun hatte. Man sah mir auch nichts an. Ich trug kein Mal auf der Stirn oder an den Händen. Die Wunde, vielleicht… Aber das wußte keiner.
Wirklich keiner? Nein. Es ist vorbei. Nur ich weiß Bescheid. Ich kann es tun, wann ich es will.
»Ich durchschaue dich gut, du prüdes kleines Biest!« sagte Michael. »Du bist auf deinen guten Ruf bedacht, aber ich auch auf den meinen! Ich trete im Fernsehen auf, halte Vorlesungen an Hochschulen. Ich kann es mir nicht leisten, von dir in den Dreck gezogen zu werden.«
Er sprach immer lauter, direkt in meine Augen. Ich wich zurück, lehnte den Oberkörper nach hinten.
Wenn er näher kommt, passiert es.
»Und jetzt sage ich dir, was wir tun werden. Ich rufe ein Taxi. Wir fahren zu 181
deinem Hotel. Nein, keine Angst, mein Engel! Ich gehe nicht mit dir aufs Zimmer, ich werde mich hüten, verdammt noch mal. Ich warte unten in der Halle! Aber du rückst die Kassette heraus, verstanden? Nimm dich bloß in acht, du kleine rothaarige Nutte! Wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen davon sagst, werde ich dir…«
Ich hörte nicht mehr zu, was er sagte. Es beginnt, dachte ich. Es hat schon begonnen. Ein Schwindelgefühl, ein Zucken und Ziehen und Reißen. Schon formte sich der Baum in meinem Kopf, eine völlig natürliche Vision. Er wuchs empor, rankend und wuchernd. Jedes Blatt, jeder Zweig, jede Verästelung gewann Form und Dichte, als müsse es einfach so sein.
Du kennst die Zauberworte.
Wie du willst, daß es geschehe,
so geschieht es auch…
Nein, nicht hier, nicht jetzt! Ich kämpfte gegen den Wahn, ich fürchtete, er werde mich in Stücke reißen. Irgendwie mußte ich bei Sinnen bleiben. Ich stöhnte in tiefem Entsetzen, biß mir die Lippen wund, rammte meine Nägel in die Handflächen. Hilf mir, ich brauche deine Hilfe! Aber du bist nicht da. Ich muß mich daran erinnern, daß du mich vergessen hast. Ich darf es nicht tun. Aber ich tu’
es trotzdem und werde es immer wieder tun. Ich kann es nicht aufhalten, nicht beherrschen, mein Körper will nicht, will einfach nicht…
»Hallo, Michael! Hast du sie endlich gefunden?«
Ich hörte die Stimme. Sie kam von weit her, aber sie war mir so vertraut, daß sie
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