Silbermuschel
Herz, es pochte und hämmerte ebenso stark wie das meine.
»Es tut mir ja so leid«, flüsterte er. »Gomennasai! Wir hatten einen Unfall. Ich habe angerufen. Hat man es dir nicht ausgerichtet?«
Stummes Kopfschütteln.
»Scheiße!« murmelte er. »Jetzt hast du dir Sorgen gemacht.«
Ich hob die Augen nicht. Kaum, daß ich noch atmete. Ich kam aus der Finsternis. Ich bettete meine Wange an seinen Hals, seine Wärme hüllte mich ein, ich spürte sie durch den ganzen Körper. Endlich konnte ich sprechen. Ich keuchte:
»Bring mich von hier fort. Schnell!«
»Ja«, sagte Ken, doch ich merkte, daß er an mir vorbeisah. Ich blickte zur Seite, sah Michael auf uns zukommen, hastig, zorngeladen. Er stolperte über einen Stuhl, stieß einen Kellner zurück, der ihm nicht schnell genug aus dem Weg ging. Ken runzelte leicht die Brauen.
»Was will der von dir?«
Ich hörte nur, wie meine Zähne aufeinanderschlugen, und er hörte es auch. Er hielt mich immer noch an sich gedrückt, in der Beuge seines linken Armes.
Langsam, fast gedankenverloren, hob er jetzt die rechte Hand, ich fühlte sie schirmend über meinem Kopf schweben. Dann senkten sich seine Finger, kraulten flüchtig mein Haar, bevor sie behutsam meinen Kopf an seine Brust drückten. Eine ruhige, gelassene Geste des Schutzes. Fürchte nichts, sagte die Bewegung, und ich fühlte mich behütet, gerettet, in Sicherheit.
Michael stieß gegen einen zweiten Stuhl. Der ganze Weg, den er zurücklegte, schien mit Stühlen versperrt. Doch nun stand er vor uns, leicht schwankend, mit starren, farblosen Augen.
»Guten Abend«, sagte er fast freundlich. »Offenbar hat Julie Sie mit Sehnsucht erwartet. Aber Sie kommen zu früh. Wir sind mit unserem Gespräch noch nicht fertig.«
Ken maß ihn mit einem kurzen, abschätzenden Blick.
»Darf ich zuhören?« fragte er liebenswürdig.
Michael antwortete nicht sogleich. Mit Kens hohem Wuchs und geschmeidigen Gebärden war eine Macht aufgetreten, spielerischverhalten zwar, aber deutlich fühlbar. In Michaels Blick spiegelten sich widerspruchsvolle Empfindungen. Er war wie ein Hund, der etwas Unbekanntes wittert. Er befand sich einem Mann gegenüber, der ihn verunsicherte und allein durch seine Anwesenheit sein eigenes hochmütiges Getue lächerlich und theatralisch erscheinen ließ. Doch Michael zögerte immer noch; Kens Unbefangenheit, seine freundliche Sprechweise 184
verwirrten ihn. Dahinter waren Dinge, die er nicht begreifen konnte. Die honigbraunen Augen betrachteten ihn ruhig, aber Michael las eine Warnung in ihnen, die er nicht wahrhaben wollte. Er furchte die Stirn und sein Gesicht lief rot an.
»Wer sind Sie überhaupt? Und was haben Sie mit Julie zu tun?«
»Sie ist meine Frau«, sagte Ken. »Und mir paßt es nicht, wenn sie belästigt wird.«
»Ihre Frau?« Michaels kurzes Auflachen war beißender Hohn. »Und seit wann, wenn ich fragen darf?«
»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Meine Uhr steht. Seit ungefähr zwei Minuten, schätze ich.«
Michael starrte ihn an.
»Sind Sie wahnsinnig?«
»Ja, schon seit langem. Und Sie sind betrunken.«
»Sagen Sie mal, suchen Sie eigentlich Streit?«
»Das wäre Zeitvergeudung.«
»Sie haben einen bizarren Sinn für Humor.«
»Mir kommt es nicht so vor, als würden Sie ihn richtig verstehen.«
Kens Stimme hatte nichts von ihrer Sanftheit eingebüßt. »Komm, Julie-san, wir gehen.« Er hob meine Tasche auf, nahm meine Hand und klingelte nach dem Lift.
Doch Michael trat einen Schritt vor, schneller, als ich ihm zugetraut hätte.
»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich will mit Julie reden.«
»Und Julie-san will nicht mit Ihnen reden«, sagte Ken in geduldigem Tonfall.
»Hören Sie gefälligst mit Ihrer ›Julie-san‹ auf!«
»Höflichkeit ist eine Frage der Selbstachtung. Sie scheinen da ein Problem zu haben.«
Ken redete leichthin, wie bei einer oberflächlichen Konversation. Michaels Gesichtsfarbe wurde immer dunkler. Jetzt erschien auch Franca, mit Charles im Schlepptau. Charles fingerte betroffen an seiner Krawatte, während Franca es offenbar nicht unangenehm fand, Ken mit Michael in einer Situation konfrontiert zu sehen, wo dieser den kürzeren zog. Noriko stand abseits, strich sich mit mechanischer Geste das Haar aus der Stirn.
»Sie bluffen ganz gut«, sagte Michael mit einem verzerrten Grinsen.
»Und Sie bluffen schlecht.«
Michael streckte das Kinn vor.
»Halten Sie gefälligst die Klappe. Julie und ich haben zu reden.«
»Damit
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