Silbermuschel
meine Betäubung zerriß. Der Baum löste sich auf in einem Wirbel bunter Glitzerteilchen, die Konturen zerfielen in einzelne Tropfen. Die Stimme bewirkte eine Trennung zwischen jetzt und dem Augenblick des Entsetzens. Ich war dieser Stimme dankbar, denn aus eigener Kraft hätte ich es nicht geschafft. Ich sah wieder Umrisse, Formen, Gesichter und merkte, daß Franca neben mir stand. Ihre frischgeschminkten Lippen glänzten im Kerzenschein, sie hielt eine Zigarette in der Hand. Ich sah auch Michael, mit einem künstlichen Lächeln auf dem Gesicht.
»Hallo, Franca! Wie elegant du bist! Na, wie war das Essen?«
»Ausgezeichnet. Du hast etwas verpaßt.« Franca nahm ihre Ohrringe ab und rieb sich die wunden Ohrläppchen. »Der gute Michael hat dich überall gesucht«, sagte sie zu mir. »Irrte umher wie ein Hirte, der sein Schäfchen verloren hat.
Kommt, ihr beiden! Jetzt setzen wir uns noch eine Weile hin und trinken etwas.«
»Auf Kosten der Schweizer Botschaft, natürlich! « Charles kam in bester Laune auf uns zu, Noriko mit gesenktem Kopf hinterher. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt, was ihrem Profil eine unschöne Linie verlieh. Franca sah mich an, blickte dann auf die Uhr und seufzte nachdrücklich, bevor sie mir einen Arm um die Schultern legte.
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»Ach, Julie, du tust mir ja so leid! Nimm dir ein Beispiel an der asiatischen Gelassenheit.« Sie flüsterte, dicht bei mir, mit einer Mischung aus Kummer und überheblicher Schadenfreude. Sie roch nach Tabak, Wein und Parfüm.
Ich kann keinen Geruch mehr ertragen.
»Versteh doch, er ist ein Musiker, ein Künstler. Der schleppt doch jede ab.
Schlag ihn dir aus dem Kopf! Es lohnt sich nicht, ihm auch nur eine Träne nachzuweinen. Um Gottes willen, wird dir schlecht? Komm, setz dich! Wir trinken noch einen Whisky oder zwei, dann nimmst du eine Schlaftablette, und morgen sieht alles ganz anders aus.«
»Ich habe mit Julie abgemacht, daß ich sie jetzt ins Hotel zurückbringe«, sagte Michael.
»So? Das wußte ich nicht!« Franca sah mich erstaunt an. Ich fühlte mich wieder schwindlig, so stark, daß ich glaubte, fallen zu müssen. Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Nein. Ich bleibe hier.«
»Was ist mit ihr?« fragte Charles. »Hat sie zuviel getrunken?«
Michael nahm meinen Arm mit gespielter Fürsorge.
»Julie fühlt sich nicht wohl. Wir sollten lieber gehen.«
Er zog mich mit sich. Ich hatte keine Kraft mehr, ihn abzuschütteln. Ein Schleier bedeckte meine Augen, ich sah alles nur in zerfließendem Weiß.
»Komm!« murmelte Michael. »Stell dich nicht so an.«
Er stieß mich vor sich her; wer nicht genauer hinsah, konnte denken, daß er mich stützte. Der Lärm um mich herum war wie ein auf- und abwogendes Rauschen – und es war mir, als ob dieses Geräusch aus meinem eigenen Körper käme. Und plötzlich sträubte sich mein Haar wie das Nackenhaar eines Hundes, und ich hörte Norikos Stimme, dicht neben mir und klar wie ein Glöckchen.
»Julie-san, chotto mite!« sagte sie auf Japanisch. Ich zuckte zusammen, stolperte gegen einen Tisch. Und blieb stehen.
Chotto mite! Die Worte weckten etwas in mir, das lange verschüttet gewesen war, eine sehr alte Erinnerung, die jetzt wie ein Echo zurückkehrte. Ich kannte diese Worte. Ich hatte sie schon früher gehört. Sie hatten etwas mit sehen oder ansehen zu tun.
Ich blinzelte benommen, das Weiße vor meinen Augen klärte sich. Noriko stand neben mir und deutete auf etwas. Auf ihrer Wange war ein Schatten; es war, als ob sie lächelte. Ich folgte ihrem Blick. Ich sah eine Gestalt am Eingang. In TShirt und Jeans, den grauweißen Pullover um die Hüften geschlungen, blickte Ken sich suchend um. Das Licht der Kerzen warf auf dem Schwarzgrau seines Haares einen kupfernen Schein. Ich sah ihn, und all meine Seele, mein ganzer Körper, vor Verzweiflung bebend, sehnte sich nach seinem Schutz, wie das Kind aus dem Schrecken des Dunkels in die Arme der Mutter flüchtet. Mich aus Michaels Griff zu befreien schien mir ebenso leicht wie das Atmen, etwas, das man einfach tut, 183
weil der Augenblick gekommen ist. Ein paar Sekunden lang hatte ich das Gefühl, nicht vorwärts zu kommen; wie in diesen Träumen, wo man die Füße bewegt und trotzdem nicht vom Fleck kommt. Ich bemerkte, wie die Leute mir nachstarrten, dann war mir, als ob ich stolperte, aber er war schon bei mir, fing mich auf, zog mich an sich. Ich schmiegte mich in seine Arme, mein Gesicht preßte sich an seine Brust, ich spürte sein
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