Silbermuschel
Laden.
Kling! macht die Tür.
Eingeschüchtert wandere ich zwischen Regalen und Büchertischen umher.
Einige Leute blättern in Büchern herum. Eine Buchhändlerin kommt auf mich zu.
Sie trägt ein blaßblaues Kleid, lang und durchsichtig, mit winzigen Goldblumen durchwebt. Sie sieht aus wie Botticellis »Primavera«. In diesem Frühling tragen viele Mädchen solche Kleider. Die Buchhändlerin kennt meinen Vater. Er kommt öfters in den Laden. Bist du nicht Julie? Julie Saint-Privaz? Dein Vater ist doch Professor an der Hochschule, nicht wahr? Was möchtest du denn? Ein Buch ansehen? Ach ja, die Geschichte vom Kastanienbaum!
Sie sucht in den Regalen und bringt es mir. Ich halte das Buch zum ersten Mal in den Händen. Mein Bauch ist ganz verkrampft. Die Biene in meiner Brust summt, daß jeder es hören muß.
Die Buchhändlerin erklärt mir, es sei ein außergewöhnliches Buch.
»Die Autorin ist eine Japanerin. Sie hat die Geschichte geschrieben und illustriert. Das Buch wurde auf der Kinderbuchmesse in Bologna prämiert und in viele Sprachen übersetzt.«
»Wie heißt die Autorin?« will ich wissen.
Die Buchhändlerin tippt mit ihrem schlanken Finger auf den Namen.
»Sie heißt Isami. Sie stammt aus Hiroshima. Weißt du, die Stadt, die im Krieg von der Atombombe zerstört wurde.«
Ich weiß nichts davon. Aber ich fühle mich wie in der Kathedrale, wenn Adeste fideles erklingt. Ich habe eine Gänsehaut, und mir kommen die Tränen.
»Wo liegt Japan?« frage ich. »Bei Italien?«
Die Buchhändlerin holt eine große Landkarte und breitet sie vor mir auf einem Tisch aus.
»Siehst du? Hier liegt Japan! Auf der anderen Seite der Erdkugel!«
»Wenn ich groß bin, fahre ich hin«, sage ich.
Die Buchhändlerin lacht und faltet die Karte zusammen.
»Sieh dir das Buch nur an, wenn du Lust hast.«
Ich setze mich an den Tisch. Sie läßt mich das Buch in Ruhe durchblättern. Die Bilder sind wunderschön, in klaren Farben gehalten. Ich vertiefe mich sofort in die Geschichte. Sie ist nur ein paar Seiten lang, die Buchstaben groß gedruckt. Ich lese schneller als andere Kinder. Mein Zeugnis ist immer das beste. Die Lehrerin sagt, ich sei ungewöhnlich intelligent. Jetzt vergesse ich alles um mich herum; die 223
Buchhandlung könnte einstürzen, ich würde es kaum merken. Die Geschichte und die Bilder erzählen von einem kleinen Mädchen, Yuriko. Sie lebt mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder in einem verwitterten Haus. Der Vater ist dabei, einen Zaun auszubessern. Er hält einen Hammer in der Hand und einige Nägel im Mund.
Die Mutter sitzt auf der Veranda und näht. Ihre Ärmel sind über den Schultern gerafft, und sie trägt ein blauweißes Tuch um ihr Haar geschlungen. Neben ihr spielt Yurikos kleiner Bruder. Am Ende der Straße, wo die Stadt beginnt, steht ein großer Kastanienbaum. Yuriko weiß, daß Bäume sprechen können, die meisten Menschen sie aber nicht hören. Bald wird der Kastanienbaum Yurikos bester Freund. Der Baum erzählt ihr, daß er vor langer Zeit ein Junge war. Als im Frühling das Schmelzwasser von den Bergen donnerte, ertrank er in einem Fluß und wurde als Baum wiedergeboren. Ferner erklärt er Yuriko, daß sie sich schon kennen: In einem früheren Leben war sie eine Füchsin, die in einem Bau zwischen seinen Wurzeln lebte.
Im Land herrscht Krieg. Eines Tages fällt eine schreckliche Bombe. Ein Feuermeer schlägt über der Stadt zusammen. Yurikos Eltern sind beide verschwunden. Yuriko bleibt mit ihrem Bruder allein. Als sie schläft, macht sich der kleine Bruder heimlich auf den Weg, um die Eltern zu suchen. Im Traum hört Yuriko die Stimme des Kastanienbaums: »Wach auf, schnell! Gleich muß ich sterben. Schütze deinen Bruder, sonst stirbt er mit mir!« Yuriko läuft aus dem Haus. Sie ruft ihren Bruder: »Komm zurück, komm zurück!« Der kleine Bruder hört sie nicht. Schon fängt der Kastanienbaum Feuer, setzt alles um sich herum in Brand. Da verwandelt sich Yuriko in eine Füchsin. Sie springt über die Straße und taucht in die Flammen ein. Der kleine Bruder bleibt stehen, ist gerettet. Yuriko aber verbrennt mit dem Baum.
Der Wind trägt ihre Asche zum Himmel empor, verwandelt sie in eine Wolke.
Sie ruht auf dem Wind, kreist lange Zeit um den Erdball. Schließlich kehrt sie dahin, wo sie geboren wurde, und löst sich in Regen auf. In der verkohlten Erde regt sich neues Leben. Gräser und Blumen sprießen, Bäume wachsen. Die Stadt wird neu aufgebaut, Kinder werden geboren. Das
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