Silbermuschel
Leben geht weiter: Ein Fest findet statt. Zum Klang der Flöten und Trommeln tanzen Kinder unter dem heiligen Sonnenrad. Der kleine Bruder ist jetzt ein Mann und schlägt die Trommel.
Plötzlich lösen sich ein Mädchen und ein Junge aus der Runde. Sie haben sich wiedererkannt; erst gestern begegneten sie sich in einem Traum. Sie lachen sich an und nehmen sich bei der Hand. Sie wissen, daß sie leben, solange die Sterne kreisen.
Ich weiß nicht, ob die Geschichte traurig ist oder nicht, sie endet ja gut. Und trotzdem bringt sie mich zum Weinen. Ich klappe das Buch zu, drücke es mit beiden Armen an mich. Die Biene summt in meiner Brust, auf einmal habe ich starke Leibschmerzen.
Die Buchhändlerin kommt zurück. Ob ich jetzt das Buch kaufen wolle? Ich 224
sage nein, aber meine Augen sagen ja, ich will es haben. Die Buchhändlerin sagt, sie werde mir das Buch zurücklegen. Meine Eltern gäben mir doch sicher das Geld.
Ich sage weder ja noch nein. Den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht denke ich nur an das Buch. Am nächsten Tag komme ich eine Stunde früher aus der Schule. Ich gehe sofort in den Laden. Die Buchhändlerin lächelt mich an. Nun?
Was sagen deine Eltern? Ich bitte sie, mir das Buch noch einmal zu zeigen. Die Buchhändlerin bringt es mir. Ich warte, bis sie hinter den Regalen verschwindet.
Dann stecke ich das Buch in meine Schultasche und renne davon. Kling! macht die Tür hinter mir.
Zu Hause riecht es nach Salmiakgeist. Meine Mutter wischt den Boden auf. Sie kniet und scheuert am anderen Ende den Flur.
»Nicht rüberlaufen!« ruft sie. »Da habe ich gerade geschrubbt, es ist noch naß!«
Ich renne an ihr vorbei, laufe atemlos die Treppe hinauf, in mein Zimmer.
Schließe die Tür, lehne mich keuchend dagegen. Meine Augen schweifen durchs Zimmer. Wohin mit dem Buch? Ich verstecke es in der Kommode, unter meinen Sachen. Ich bin ganz entsetzlich erregt. Die Biene in mir brummt und schwirrt, schüttelt meinen Brustkorb, bis ich fast toll werde. Mein Bauch fühlt sich hart und aufgedunsen an. Hoffentlich bin ich nicht krank.
Meine Mutter steht neben ihrem Eimer im Treppenhaus und schimpft. Was ist nur los mit dir? Warum bist du so rot im Gesicht? Und wasch dir die Hände, deine Finger sind voller Tinte.
Am Nachmittag habe ich schulfrei. Ich sitze im Wohnzimmer, die Beine um den Stuhl geschlungen, und mache Schularbeiten. Meine Mutter putzt die Küchenfenster mit Zeitungspapier. Ich höre, wie sie scheuert und manchmal innehält und seufzt. Ich denke nur an das Buch. Ich habe Leibschmerzen, mir ist übel.
Die Haustür geht auf. Im Gang werden Schritte laut. Mein Vater! Um diese Zeit? Meine Mutter kommt aus der Küche. Sie hat sich eine alte Schürze umgebunden und trägt Gummihandschuhe. Eine schwarze Strähne hat sich gelöst und fällt über ihre feuchte Stirn. Sie hört, was mein Vater zu mir sagt. Er sagt es ohne ein Wimpernzucken, wie üblich. Seine Stimme klingt nicht einmal unfreundlich. Die Buchhändlerin habe in der Hochschule angerufen. Seine Tochter habe ein Buch gestohlen. Er fragt mich: Ist das wahr? Ich breche in Tränen aus. Ich heule mit offenem Mund, ich sage: Nein, nein, ich habe kein Buch gestohlen. Mein Vater erwidert, nur schlechterzogene Kinder lügen ihre Eltern an, und das mache meinem Schutzengel Kummer. Seine Augen leuchten kalt, aber er spricht so unglaublich sanft zu mir, daß es schlimmer ist, als wenn er mit mir schimpfen würde. Doch meine Mutter ist ganz außer sich. Sie hat rote Flecken im Gesicht, sie stöhnt und ringt die Hände. Diese Schande! Was werden die Leute nur sagen? Wo denn das Buch sei? fragt mein Vater. Ich antworte nicht. Meine Mutter fängt an zu 225
schreien, sie würde das verdammte Ding schon finden. Sie sagt tatsächlich: »das verdammte« Ding. Meine Mutter hastet die Treppe hinauf. Nein, kreische ich, bitte, tu es nicht! Meine Mutter ist schon oben, stößt die Tür zu meinem Zimmer auf. Ich habe ein solches Ziehen im Bauch, daß ich kaum noch stehen kann. Ich schleppe mich die Stufen hinauf, ich höre, wie meine Mutter alle Schubladen herauszieht und wieder hineinstößt, den Schrank durchwühlt. Gegenstände fallen zu Boden. Endlich bin ich in meinem Zimmer. Meine Mutter kniet zitternd vor Wut vor der Kommode. Sie zieht die Schubladen heraus, schüttelt sämtliche Sachen auf den Boden, die Baumwollschlüpfer, die beiden Nachthemden zum Wechseln, die Strümpfe, alles. Sie wühlt in dem Wäschehaufen, findet das Buch.
Sie hält es hoch mit
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