Silbermuschel
jung, aber meine Mutter besteht darauf. Im nächsten Jahr sei ich schon über zwölf, und dann sei es zu spät. Sie sagt nicht, warum. Wie alle Mädchen trage ich ein langes weißes Kleid, weiße Handschuhe und einen Kranz aus Stoffrosen. Mein Vater schenkt mir eine dünne Halskette, an der ein winziges goldenes Herz baumelt. Meine Eltern gehen mit mir zu einem Fotografen. Ich knie auf einem Betstuhl, den Rosenkranz über die gefalteten Hände geschlungen.
Es ist Sommer geworden. Auf der Straße sehe ich zwei Hunde. Der eine umklammert das Hinterteil des anderen und zuckt auf eine seltsame Art. Ich bleibe stehen und betrachte sie. Ein größerer Junge kommt vorbei. Ich sehe oft, wie er auf dem Schulhof andere Kinder verprügelt. Ich mag ihn nicht. Er reißt den Mund weit auf und krümmt sich vor Lachen.
»So macht es dein Vater mit deiner Mutter!«
Ich sehe ihn an und frage: »Was?«
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Der Junge kreischt vor Vergnügen, hüpft herum und faßt sich zwischen die Beine. Das tun Jungen oft. Ich weiß, daß Jungen anders sind als Mädchen. Er hebt einen Stein auf, zielt auf die Hunde, trifft. Die Hunde springen jaulend auseinander. Dem größeren hängt ein nasser roter Finger aus dem Bauch. Ich bin etwas erschrocken.
Mitten in der Nacht wache ich auf: Ich habe von diesem Hund geträumt. Mir ist zu heiß unter der Decke, mein Herz klopft. An der Wand über meinem Bett schaukeln die Schatten der Blätter. Ssssst! flüstert sanft der Kastanienbaum. Meine Angst vergeht. Ich schlafe wieder ein.
Der Herbst kommt, dann der Winter. Im Januar bin ich zwölf Jahre alt geworden. Jetzt ist bald März. Die aufgehende Sonne duftet nach frischer Erde, der Kastanienbaum ist voll dunkelroter Knospen. Morgens um halb fünf singen schon die Schwarzdrosseln. In der Altstadt riecht es nach nassem Asphalt, frischem Brot und den ersten Mimosen. Ich fühle den Morgenwind und seine Kühle, dieses Glück, frischgebackenes Brot zu riechen, stark und lebendig zu sein, das Herz erfüllt von Freude und Erwartung. Worauf?
Auf dem Schulweg komme ich täglich an einer Buchhandlung vorbei. An diesem Morgen sehe ich ein Kinderbuch im Schaufenster. Auf dem Einband ist ein Mädchen abgebildet. Ihr schwarzes Haar ist im Halbrund geschnitten. Sie trägt ein blaues Gewand mit einer roten Gürtelschärpe, weiße Strümpfe und Sandalen. Das Mädchen steht unter einem Kastanienbaum. Neben ihr, im Gras, sitzt ein kleiner Junge. Das Buch heißt »Kurino-Ki, der Kastanienbaum«. Ich spüre ein seltsames Flattern in der Brust. Auf dem Rückweg bleibe ich wieder vor dem Schaufenster stehen. In den Laden traue ich mich nicht. Kurino-Ki, der Name schwirrt in mir wie eine Biene. Ich frage meine Mutter, ob ich das Buch kaufen dürfe. Meine Mutter hat niemals Geld. Mein Vater gibt alles für sich selbst aus; er trägt Pullover aus reiner Wolle und maßgeschneiderte Hemden. Wir lassen in den Geschäften anschreiben. Meine Mutter sagt, komm mir nur nicht mit einem Buch! Als ob wir nicht schon Bücher genug hätten! Schlag dir diese Idee aus dem Kopf.
Abends erzähle ich meinem Vater von dem Buch. Er lächelt versonnen und zuckt mit keiner Wimper. Es ist, als ob blaue Kristalle in seinen Augen funkeln.
Ein Kinderbuch? Aber du bist doch schon zwölf, fast eine junge Dame. Ich sage, oh, bitte, Papa, ich möchte es so schrecklich gern haben!
Er antwortet, es tue ihm leid, aber in diesem Monat müsse gespart werden. Die Steuern seien bald fällig. Ich könne mir ja das Buch in der Schulbibliothek ausleihen. Und außerdem, in meinem Alter solle ich lieber beginnen, die Klassiker zu lesen, Honoré de Balzac und Victor Hugo. Er fragt, ob wir bald essen können und was es denn gäbe. Meine Mutter ruft aus der Küche, es gäbe Lammfleisch. Ich habe es beim Metzger geholt und anschreiben lassen. Ich solle den Tisch decken, sagt mein Vater. Wir reden nicht mehr von dem Buch.
Nach dem Essen gehe ich in den Garten. Ich erzähle dem Baum, daß ich einen 222
Namen für ihn habe. Kurino-Ki. Ich will wissen, ob ihm der Name gefällt. Der Kastanienbaum sagt, doch, den Namen fände er hübsch. Am nächsten Tag gehe ich zur Schulbibliothek und frage nach dem Buch. Die Bibliothekarin sucht in ihrer Kartei und schüttelt den Kopf. Das Buch sei eine Neuerscheinung, sie hätten es noch nicht angeschafft. Im nächsten Jahr, vielleicht.
Ich laufe zur Buchhandlung. Das Buch ist nicht mehr im Schaufenster. Ich habe Angst, daß es verkauft wurde. Ich fasse mir ein Herz und gehe in den
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