Silbermuschel
kein Geld, sagt mein Vater, und wer fährt schon in die Ferien, wenn die Strände überfüllt und alle Hotels ausgebucht sind? Und die Preise heutzutage, die unfreundliche Bedienung, die vielen Touristen. Außerdem hat er anderes zu tun. Er schreibt eine Abhandlung, er sitzt schon frühmorgens vor der Schreibmaschine. Nach dem Essen legt er sich eine Stunde hin, dann arbeitet er wieder. Am Abend trifft er sich mit Freunden im Café und kommt immer spät nach Hause.
Meine Mutter verabscheut den Sommer. Sie geht kaum aus dem Haus. Nur wenn der Abend hereinbricht und es kühler wird, setzt sie sich auf einen Stuhl im Garten und betet den Rosenkranz. Meistens sitzt sie einfach da. Sie hat immer Strümpfe an, auch im Sommer. Tagsüber trägt sie eine dunkle Brille, auch im Haus. Dann sehe ich nur schwarze Spiegel in ihrem Gesicht statt Augen.
Eines Nachts, als es sehr heiß ist, träume ich von meiner Großmutter. Ich sehe ihren Körper, hoch in die Luft geworfen, in ihrem Nachthemd. Ihr rotes Haar wirbelt im Wind. Sie streckt die Arme aus, als ob sie schwimmen würde. Ihr Mund steht weit offen, wie ein schwarzes Loch. Sie schreit so laut, daß ich wach werde.
Neben meinem Bett steht ein Schatten. Ich setze mich hoch, starr vor Schrecken, und sehe meinen Vater. Er hat seinen gestreiften Schlafanzug an und hält die Hand zwischen die Beine. Er sagt, ich hätte so entsetzlich geschrien, er wolle nur schnell mal sehen, ob alles in Ordnung sei. Er reibt sich zwischen den Beinen, wie die Jungen auf dem Schulhof, und fragt, was ich denn geträumt habe. Ich sage, ich hätte es vergessen. Er beugt sich über mich, streicht mir über die Stirn, seine Hand ist ganz naß. Ich rolle mich auf die andere Seite. Er schlurft aus dem Zimmer, schließt leise die Tür hinter sich. Ssssst! wispert der Kastanienbaum. Das Rauschen der Blätter wiegt mich in den Schlaf. Am Morgen ist alles wie sonst.
Ende Juli, da spüre ich etwas Seltsames: ein Flirren in der Luft, ein funkelndes Streicheln, ein Vibrieren. Was ist es nur, was kann es nur sein? Es geht durch die Straßen, es wandert in weiten Kreisen, manchmal verschwindet es, dann ist es wieder da, ganz nahe und trotzdem unerreichbar. Ich fühle es, wenn es näher kommt, ebenso deutlich, wie wenn es verschwindet. Mein Herz pocht, mein Atem fliegt. Seit Tagen werde ich meine Angst nicht los. Ich weiß, daß ich etwas suchen muß. Finde ich es, bin ich gerettet, sonst muß ich sterben. Bitte, Manuel! Laß mich nicht im Stich. Mach, daß ich es rechtzeitig finde!
237
Ich flattere durch die Straßen wie ein aufgescheuchter Vogel, dränge mich durch die Fußgänger. Sonne, blauer Himmel, Platanen. Überfüllte Cafés, Straßenhändler und viele Touristen. Es riecht nach Staub, gerösteten Mandeln, warmen Auspuffgasen. Die Hitze des Asphalts dringt mir durch die Sohlen. Ich bleibe stehen, schnappe nach Luft, mir wird schwindlig. Dann drehe ich mich um, renne in die andere Richtung. Was suche ich eigentlich? Warum laufe ich so? Und plötzlich ist es vorbei. Ich spüre nichts mehr. Was war das? Was konnte es nur gewesen sein? Manuel könnte es mir vielleicht sagen. Aber Manuel ist fort.
Endgültig fort. Ich beginne, mich weniger gut an ihn zu erinnern. Mit jedem Tag, der vorbeigeht, entfernt er sich weiter von mir. Alles klebt mir am Körper. Mein Büstenhalter ist ganz naß, die Haut schimmert hindurch. Ich bin allein. Ich habe Angst.
Tante Marguerite, die jüngere Schwester meiner Mutter, ruft aus Montpellier an, aus der Klinik. Sie hat ihr erstes Baby zur Welt gebracht, einen Sohn. Meine Mutter wiederholt mehrmals, einen Sohn, mit müder, bitterer Stimme. Mein Vater fragt, wie der Kleine denn genannt würde. Er soll auf den Namen Louis getauft werden, wie sein älterer Bruder, der im Krieg ums Leben kam. Mein Vater sagt, das freue ihn. Tante Marguerite möchte, daß meine Mutter ihr ein paar Tage den Haushalt führt. Mein Vater sagt, geh doch. Sie wird mit dem Zug fahren.
Meine Mutter zeigt mir, wie man einfache Sachen kocht. Die Wäsche soll ich liegenlassen, nur die Hemden meines Vaters zur Wäscherei bringen. Und seine Taschentücher auskochen und bügeln. Sie sagt, es wird Zeit, daß du ein bißchen mit Hand anlegst, auf diese Weise lernst du die Hausarbeit. Sonst verkriechst du dich ja nur in deinen Büchern oder lungerst im Garten herum und träumst.
Wir bringen meine Mutter zum Bahnhof. Auf dem Rückweg sagt mein Vater, jetzt bist du ’meine kleine Hausfrau. Er tätschelt mir die
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