Silbermuschel
Schloß. Er ist fort.
Nach einer Weile stehe ich auf, taste mich die Treppe hinunter, auf Beinen, die in den Gelenken einknicken. Das ist immer so, wenn ich Angst habe. Im Eßzimmer mache ich das Fenster auf und lüfte. Vorsichtig räume ich den Tisch ab. Ich zittere immer noch am ganzen Körper. Hoffentlich lasse ich keinen Teller fallen! Den Aschenbecher leere ich in den Mülleimer, als das Telefon läutet. Ich zucke zusammen, der Aschenbecher fällt auf die Fliesen. Überall Scherben. Ich stehe da, wie versteinert. Das Telefon hängt im Flur. Laut und hartnäckig drängt das Läuten durch die Stille. Behutsam umgehe ich die Splitter, nehme den Hörer ab. Meine Mutter ruft aus Montpellier an. Sie will wissen, wie ich zurechtkomme. Ich flüstere, der Aschenbecher sei kaputt. Der große aus Kristall. Meine Mutter schimpft, wenn du so weitermachst, haben wir bald kein Geschirr mehr im Haus.
Was sonst? fragt sie. Ich sage, daß mir die Wäsche zuviel wird. Meine Mutter erwidert, Tischdecken und Servietten dürfe ich ausnahmsweise zur Wäscherei bringen. Aber die Unterwäsche deines Vaters rührst du nicht an. Ich frage, wie es dem Kleinen geht. Sie sagt, es gehe ihm gut. Ob mein Vater noch da sei? Ich sage, er ist gerade gegangen. Meine Stimme klingt seltsam verschlossen. Sie sagt, ich soll nicht zu lange aufbleiben. Was wollte ich sie noch fragen? Sie sagt schnell, das Gespräch ist teuer. Nicht wichtig. Ach so, wann sie zurückkäme. Sie sagt, am Wochenende.
Ich fege die Scherben auf, spüle, bringe die Küche in Ordnung. Dann schließe ich unten ab, mache alle Fenster im Erdgeschoß auf. Ich putze mir die Zähne, wasche mir Gesicht und Hände und auch die Füße im Lavabo. Ich ziehe mein Nachthemd an. Meine Mutter will, daß ich Büstenhalter und Schlüpfer anbehalte, auch nachts. Ich knie vor dem Kruzifix und spreche mein Nachtgebet. Dann stelle ich mich ans Fenster, klatsche zweimal in die Hände und rufe halblaut den Namen des Kastanienbaums: »Kurino-Ki.«
Ssssst! flüstern die Blätter, zärtlich und beruhigend. Bei Mondschein schreit ein Käuzchen in den Zweigen; ich zittere, weil es sich so traurig anhört.
Ich streiche mit der Handfläche über die Möbel, sage ihnen gute Nacht. Dann lege ich mich ins Bett, knipse die Nachttischlampe an, schlage mein Lieblingsbuch auf: Die »Briefe aus meiner Mühle«, von Alphonse Daudet. Eine Geschichte aus diesem Buch bringt mich zum Weinen. Sie erzählt, wie Monsieur Séguins kleine Ziege, hoch oben auf dem Berg, die ganze Nacht über den Wolf bekämpft. Sie wird immer schwächer, sie blutet, sie gibt nicht auf. Doch als die Sonne aufgeht, sind ihre Kräfte dahin, und der Wolf zerfleischt sie. Ich kann den Schluß nicht lesen, er ist so entsetzlich traurig, und ich habe zuviel Angst. Ich lösche das Licht, 240
drehe mich auf meine Schlafseite. Der Spiegelschrank leuchtet im Mondlicht. Die Schatten der Blätter zucken an den Wänden. In der Ferne rasselt ein Bagger. Autos hupen auf dem Boulevard. Ich schlafe ein.
Ich werde plötzlich wach. Die Schatten im Zimmer sind dunkler geworden, der Mond steht höher am Himmel. Mein Herz pocht; ich halte den Atem an und lausche. Jemand kommt die Treppe herauf: mein Vater! Ich ziehe die Decke hoch bis ans Kinn, mein ganzer Körper versteift sich. Der untere Teil der Treppe ist aus Stein, aber im letzten Absatz sind Holzstufen. Eine Stufe knarrt, wenn man auf sie tritt. Warum habe ich solche Angst? Es ist doch mein Vater. Er will ja nur sehen, ob ich ruhig schlafe. Er wird meine Decke zurechtziehen, mir einen Kuß geben.
Vielleicht greift er sich zwischen die Beine, aber was ist denn Schlimmes dabei?
Jetzt öffnet er behutsam die Tür. Ich höre seine Stimme: Schläfst du? Ich flüstere, nein. Er hat seinen Schlafanzug an. Er sagt, er wolle mir nur gute Nacht sagen.
Er setzt sich auf die Bettkante. Die Matratze knarrt, gibt unter seinem Gewicht nach, so daß ich näher an ihm zu liegen komme. Er fragt, ob ich mir die Zähne geputzt habe. Ich sage ja. Ob ich überall sauber sei? Ich sage ja, wie immer. Er sagt, er wolle mal riechen, ob ich sauber sei. Er beugt sich zu mir herunter. Ich sehe kaum sein Gesicht, ich rieche seinen Tabakqualm. Er sagt, mach den Mund auf. Ich drehe das Gesicht zur anderen Seite. Dieser Geruch! Mir wird übel davon.
Er sagt, ja doch, mein Gesicht rieche gut, er wolle jetzt mal sehen, ob ich überall sauber sei. Er steckt die Hand unter die Decke, ich spüre sie auf meinem Bein. Ich sage, ich habe
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