Silbermuschel
tief ein.
»Es tut mir leid«, sagte sie heiser.
»Niemand kannte diese Geschichte. Auch Bruno nicht. Aber all das saß tief in mir. Ich tat nie etwas Positives, Spontanes. Ich wollte mich schützen, um jeden Preis. Deswegen ließ ich mich von Bruno aushalten, schluckte jede Blamage, statt endgültig mit ihm Schluß zu machen. Vielleicht war ich wirklich willenlos, aber in dieser Sache war ich es nicht. Ich hatte keinen Funken Ehrgefühl mehr im Leib, nur Eigennutz. Allerdings, ohne diesen Eigennutz hätte ich niemals überleben können. Und dann noch…«
Ich stockte, biß mir hart auf die Lippen. Nein, diese andere Sache durfte nur Ken wissen. Franca indessen starrte mich an, mit weißem Gesicht. Ich sagte: 284
»Ich fürchtete mich vor allen Männern, ob sie nun nett waren oder nicht. Ich wollte mich an ihnen rächen. Und gleichzeitig empfand ich wie ein Mädchen von zwölf Jahren, sehnte mich nach Geborgenheit und Liebe. Ich hatte niemals die richtigen Gefühle. Bis jetzt. Bis ich Ken traf. Gegen ihn kam ich nicht an. Ich habe ihm alles erzählt.«
Franca schluckte und bekam schließlich ihre Stimme in die Gewalt.
»Wie hat er dich dazu gebracht?«
Ich schloß die Augen und erinnerte mich. Ich fühlte in mir ein feines Beben wie von einem vibrierenden Draht.
»Ich sagte zu ihm, in mir ist alles verschmutzt und verdorben, ich schleppe etwas Furchtbares mit mir herum. Er sagte, sehen wir uns das mal an. Jedem anderen wäre die Galle hochgekommen. Ihm nicht, er stieg mit mir in die Hölle und führte mich wieder hinaus. Es war eine Qual, ein ganz entsetzliches Grauen. Er ließ mich keine Sekunde im Stich. Ohne ihn hätte ich es nie überstanden…«
Sie wandte die Augen ab. Es war sehr still im Zimmer, von dem gedämpften Surren der Klimaanlage abgesehen. Ich atmete ein paarmal tief durch.
»Jetzt ist alles gut. Ken sagt, daß ich mich selbst heilen würde. Daß ich bereits damit begonnen habe. Und es stimmt. Ich habe dir meine Geschichte erzählt. Seit zwanzig Jahren hatte ich kein Wort darüber verloren. Ich wußte nichts Besseres, als durch die Welt zu gehen wie eine Schlafwandlerin. Jetzt bin ich wach, so wach, daß ich nie mehr wieder einschlafen werde.«
Franca stützte beide Ellbogen auf den Tisch. Sie kniff die Lider zusammen, um den Blick zu schärfen, die Tränen der Zärtlichkeit in den Augen zu trocknen. Nur nicht sentimental werden, das war schon ein Fehler. Als sie sprach, hatte sich ihre Teilnahme bereits wieder distanziert ernüchtert. Unter dem Seziermesser der psychologischen Analyse wirkten ihre Worte eher wie ein Gespräch, das sie mit sich selbst führte.
»Ich verstehe. Die Gefühlsregungen, die dieser Mann in dir weckt, haben vermutlich deine neurotischen Ängste aufgehoben. Ich nehme an, daß du von seiner ›Andersartigkeit‹ besonders angezogen bist, deswegen hast du dich bisher in deinen Gefühlen niemandem gegenüber so aufgeschlossen.«
Gar nichts verstehst du, dachte ich und fand das auch besser so.
»Doch nur, weil er mich liebt«, sagte ich.
»Du machst es dir leicht. Die Liebe mag eine tolle Sache sein, aber du wirst mir nicht weismachen, daß sie den Analytiker ersetzen kann.«
Ich schwieg. Es gab nicht den geringsten Zusammenhang zwischen dem, was sie sagte, und dem, was ich empfand. Ich habe das ja alles selbst durchgemacht, dachte ich. Die Liebe kann man sich abgewöhnen, auf bloße Spielereien reduzieren. Oder man wartet auf etwas, das nie eintrifft. Und dann ist es besser, sich einen Sinn fürs Konkrete und Naheliegende zu bewahren. Nichts vermissen und auch nichts Unmögliches wollen. Keine Sehnsucht zulassen. Ich glaube, du 285
beneidest mich, Franca.
Sie sah plötzlich auf die Uhr, drückte die halbgerauchte Zigarette mit kräftiger Geste aus.
»Es wird Zeit! Charles kommt jeden Augenblick. Er bringt mir einige Informationen und fährt mit mir bis zum City-Terminal.«
Sie ging im Zimmer umher, legte einige Pakete in den Koffer und stopfte die anderen Sachen darum herum. Dann packte sie Kleider und Wäsche ein, setzte ein Knie auf den Koffer und drückte den Deckel mit Mühe zu.
»Ich habe mal wieder zuviel Zeug eingekauft. Und was soll ich damit in der Schweiz? Habe ich nichts vergessen? Auch im Badezimmer nicht?« Sie ging nachsehen, blieb eine Weile weg und kam wieder zurück. Ihre Lippen waren jetzt rot angemalt.
»Du bringst mich ganz durcheinander, weißt du das? Deine Geschichte geht mir unter die Haut, und irgendwie habe ich das nicht
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