Silbermuschel
gern.«
Ich lächelte, kannte ja ihre zwei Gesichter: das Alltagsgesicht und das richtige.
Sie schloß den Koffer, hob ihn mit sicherer Hand und stellte ihn auf den Boden.
»Du hast eine neue Sonnenbrille«, stellte ich fest.
»Ja. Gefällt sie dir?«
Die Brille hatte breite Ränder, war weißgolden.
»Hübsch! «
»Hat eine Menge Geld gekostet«, sagte Franca.
Sie drehte das Türschloß auf und zog ihren Koffer auf Rädern aus dem Zimmer. Ich trug ihre Tasche, die ziemlich schwer war. Wir klingelten nach dem Lift, der bald kam. Im Aufzug waren ein paar Leute; alle schwiegen. Franca hatte sich die Brille wie eine Maske aufgesetzt. Dahinter war ihr Gesicht geschützt, verborgen. Sie zeigte nur ihre roten Lippen, wie ein Signal.
Ken saß in einer der Polstergruppen, hatte meine Tasche neben sich stehen und aß O Senbei, Reisgebäck, aus einer Tüte. Er sah uns aus dem Aufzug kommen, stand auf und kam uns entgegen. Er nahm mir die Tasche ab, schenkte Franca sein entwaffnendes Lächeln und bot ihr O Senbei an. Sie griff automatisch in die Tüte.
»Gut, nicht wahr?« sagte Ken.
Sie starrte hinter ihren dunklen Gläsern zu ihm empor.
»Jetzt haben Sie Julie tatsächlich dazu gebracht, daß sie in Japan bleibt.«
»Sie konnte nicht anders. Ich lasse sie ja nicht weg.«
Francas Mund zuckte.
»Spontane Entschlüsse können gut oder schlecht sein. Ich hoffe nur, Sie nutzen diese Situation nicht aus.«
»Doch. Sie kommt wie gerufen.«
»Dio Benedetto!« seufzte Franca. »Geben Sie mir etwas Zeit, mich an Sie zu gewöhnen.«
Da kam Charles durch die Glastür, außer Atem und die Japan-Times unter dem 286
Arm. Er bedachte Ken mit einem langen, argwöhnischen Blick, begrüßte ihn frostig und redete sofort auf mich ein.
»Hallo, mein Schatz, da bist du ja! Wir waren schon beunruhigt.«
»Das hätten Sie sich sparen können.«
Ken kaute gelassen und hielt Charles die Tüte unter die Nase. »Die O Senbei sind nicht schlecht. Nehmen Sie doch!«
»Wie bitte?« Charles wurde rot. »Nein, danke! Ich habe schon zu Mittag gegessen. Alles fertig, Julie? Der Bus startet gleich.«
»Ich fahre nicht«, sagte ich, wobei meine Stimme herausfordernd klang. »Ich bleibe in Japan. Ken und ich heiraten.«
Charles fiel fast die Kinnlade herunter.
»Aber, mein Schatz, du bist ja noch mit Bruno verheiratet!«
»Der stört uns nicht, solange er uns nicht in die Quere kommt«, sagte Ken.
»Außerdem sind wir ihn bald los.«
Charles starrte ihn an.
»Es ist schon beeindruckend, wie unkonventionell Sie sind. Ich stelle mir vor, es liegt an Ihrem Beruf.«
»Nein, es liegt an meiner Natur.«
»Kannst du mir mal sagen, wie es weitergeht? Bleibst du jetzt auf einer Insel im Japanischen Meer?« fragte mich Charles.
»Nur den Sommer über.« Ken legte den Arm um mich. »Im Herbst gehen wir auf Tournee. Nächstes Jahr spielen wir im Kongreßhaus in Zürich.«
Ich legte das Kinn auf seine Schulter, umfaßte seine Taille mit beiden Armen.
Ich spürte seine Wärme, die Resonanz seiner Stimme in seinem Körper. Unsere Lippen berührten einander.
»Ah… Hm!« räusperte sich Charles, und seine Stimme verriet anhaltenden Groll. »Ich war der Meinung, daß das Herzeigen von Gefühlen in der japanischen Öffentlichkeit verpönt ist.«
»Das Moralempfinden ist wandelbar, auch bei uns.« Ken sah gleichmütig auf.
»Sich zu küssen, wenn man in Stimmung dazu ist, erhitzt hierzulande kaum noch die Gemüter.«
Er gebrauchte die Worte se rouler une pelle, einen ordinären Ausdruck für
»Zungenkuß«. Charles furchte die Stirn, und Franca brach in Lachen aus.
»Sie sind wirklich unglaublich!«
Er lächelte ihr zu; die Fältchen um seine Augen vertieften sich.
»Wieso? Wasser kocht nicht plötzlich, der Kessel muß eine Zeitlang auf dem Ofen gestanden haben.«
Wir gingen durch die Halle. Der Bus stand schon vor dem Hoteleingang. Ein Portier in Phantasieuniform schob den Wagen mit Francas Gepäck durch die Glastüren. Wir traten nach draußen. Reisende standen mitten in Bergen von Taschen und Überseekoffern und sahen zu, wie ihre Gepäckstücke verladen 287
wurden. Charles spazierte auf und ab, klopfte mit der Japan-Times gegen seine Handfläche. Franca nahm ihre Sonnenbrille ab und sah zu mir herüber.
»Ach, Julie! « sagte sie rauh, »nimm es mir nicht übel, wenn ich etwas konfus bin. Ich war nicht auf so etwas vorbereitet. Und ich will auch nicht, daß du unglücklich wirst.«
Wir blickten einander an, hart am Rande offener
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