Silbermuschel
die, die einem nahestehen. Daß einem vielleicht überhaupt niemand wirklich nahe sein kann. Ich war so wütend! Ich fühlte mich besudelt, beschämt, erniedrigt. Der Motor dröhnte in meinen Kopf. Gleich kam die scharfe Kurve zur Autobahn. Die Straße bog ab; ich sah die vorbeifahrenden Wagen, die rote Kette der Rücklichter. Mit einem automatischen Blick in den Rückspiegel schwenkte ich ein. In mir klopfte die Wut, mein ganzer Körper bebte.
Dieses Gefühl chaotischer Auflösung hatte ich schon früher erlebt. Wann? Vor langer Zeit. Denk nicht daran!
Ein schrilles, langanhaltendes Hupen, das erregte Auf und Ab von Scheinwerfern. Wie im Traum sah ich einen großen, dunklen Schatten ganz nahe an mir vorbeifliegen. Noch immer war ich vom Schwindel benommen, aber ich schaffte es, den ausbrechenden Wagen wieder auf die richtige Fahrspur zu bringen.
Ich zitterte so stark, daß ich meine Zähne klappern hörte. Es war noch einmal gutgegangen.
Ich öffnete das Fenster, ließ kalte Luft in den Wagen. Ein Ortsschild tauchte auf. Ich gab Blinkzeichen, schwenkte ab. Ich fuhr an einigen Häuserblöcken mit erleuchteten Fenstern vorbei. Ruckartig hielt ich vor einem Rotlicht, wühlte blindlings nach einem Taschentuch, putzte mir die Nase. Meine Angst war aus dem 36
Kopf in den Bauch gesunken.
Unter den Bäumen war es stockdunkel. Ich hielt den Wagen an. Der Knall der zugeschlagenen Tür hallte durch die Stille. Schluchzend begann ich zu laufen, floh aus der Finsternis in das Zwielicht der offenen Landstraße. Die Tränen verklebten meine Augen, ich sah überhaupt nichts mehr; ich stolperte über eine Baumwurzel, mein Fuß knickte ein. Ich benahm mich idiotisch, und das alles nur wegen Paul.
»Du Dreckskerl!« schrie ich. »Scher dich zum Teufel!« Ich erreichte die Autobahnbrücke, blieb keuchend stehen, lehnte mich an das Geländer, schwankend wie eine Betrunkene. Tränen liefen über mein Gesicht. Niemals würde ich mich trauen, irgendwem zu sagen, welche Angst ich hatte und warum. Ich wußte, daß es eine gefährliche Angst war; ich wußte auch, wohin sie führte. Ich würde Folterqualen, Höllenqualen leiden, aber mein Geheimnis bewahren. Wie man es nannte, wußte ich nicht; vielleicht gab es einen Menschen, der den Namen dafür kannte. Aber ich mochte alt werden und sterben, ohne daß ich ihm jemals begegnete. Ich konnte nicht aus meiner Haut heraus. Und ich wußte schon als Kind, daß ich ein Monstrum war.
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3. KAPITEL
I ch lag im Bett, die Nachttischlampe brannte. Aus dem Radio klang Musik: eine Trompete, aufreizend und geschmeidig. Miles Davis spielte in Montreux, ein Jahr bevor er starb. Die Trompete webte ihr Muster aus Tönen, wand sich in Wellen und Schnörkeln und explodierenden Sternen. Ich bewegte den Kopf auf dem Kissen hin und her, meine Gedanken glitten auf der Oberfläche der Musik dahin. Ich breitete die Arme aus, betastete mit Behagen die breite, kühle Bettfläche. Kein Mann lag neben mir, der mir seine Gegenwart aufzwang. Bruno rauchte oft im Bett, trank einen Whisky und las mit rücksichtslosem Papierrascheln die Zeitung, während ich willenlos und erschöpft in den Schlaf fiel. Schlafsucht.
So nannte man das, was ich hatte. Ich brauchte nicht zum Arzt zu gehen, das wußte ich selbst. Schlaf ist die Sehnsucht nach dem Tod, das Hinabtauchen in das Unterbewußte. Den Frieden. Das Nichtgeborensein. Ich habe meiner Mutter den Bauch zerrissen. Das ist die Strafe dafür. Ich bin so allein, Mama, du kannst es nicht ahnen. Verzeih mir! Hab mich doch etwas lieb…
Du verzeihst mir nicht. Diese Sache nicht und auch nicht die andere. Niemals.
Wie stark dein Haß doch sein muß!
Denk nicht daran.
Für Bruno war ich die perfekte Ehefrau. Mein Mann achtete stets darauf, gepflegt zu wirken. Jeden Morgen mußte ein frischgebügeltes Hemd her.
»Meine Mutter ging nie ins Bett, ohne vorher für meinen Vater ein Hemd bereitgelegt zu haben«, hatte er mir kurz nach der Heirat verkündet.
Also, das Hemd lag abends fix und fertig da, die Manschettenknöpfe waren hineingesteckt, die passende Krawatte und die Socken lagen daneben. Ich tat alles ganz automatisch, schon seit Jahren.
Einmal im Monat, oder nur alle acht Wochen, ließ ich ihn dann auf mich klettern und in der sogenannten Missionarsstellung seine reizlose, keinerlei Lust erregende, mechanische Gymnastik aufführen. Mitunter klappte es überhaupt nicht, worauf er betreten etwas von »viel Streß heute« murmelte. Oder er bekam eine Erektion, und ich
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