Silbermuschel
Horizont. Es würde ein schöner Tag werden.
Halb acht. Schritte wurden im Treppenhaus laut. Auf den Stufen klapperten Absätze. Unten surrte die Garagentür. Ich hörte den Motor anspringen, die Reifen auf dem Kies knirschen. Der Wagen fuhr den Weg hinauf. Neben Bruno hielt eine Frau mit schwarzen Haaren eine Zigarette in der Hand. Der Wagen bog um die Kurve und verschwand. Ich ging ins Schlafzimmer, brachte das Bett in Ordnung, lüftete und stopfte Wäsche in die Waschmaschine. Meir ne bloßen Füße glitten geräuschlos über den Teppich. Im Haus war es so still, daß ich mich atmen hörte.
Immer noch im Bademantel, schaltete ich meinen Computer ein. Ich hatte einen Bericht über einen Lokalschriftsteller zu schreiben – einen eitlen, langweiligen Menschen, der elitäre Prosa im Kellertheater von Vevey vorgetragen hatte. Neben mir stand das Telefon. Um halb neun nahm ich den Hörer ab und wählte die Nummer vom Globus-Verlag. Karin Schneider, die Telefonistin, war eine üppige Blondine, längst über vierzig, mit heller Mädchenstimme. Natürlich wußte sie über uns Bescheid, wie alle. Sie teilte mir mit, daß Paul in die Druckerei gefahren sei, um den Andruck des neuen Bildbandes zu prüfen. Ich ließ ihm ausrichten, daß er mich zurückrufen solle. Es wurde halb zehn, dann zehn. Ich konnte nicht schreiben. Mein Herzklopfen wuchs. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich stand auf, zog die Vorhänge zu, begann auf und ab zu gehen. Halb elf. Könntest du nicht anrufen? Bitte, rufe doch an!
Das Telefon klingelte. Ich fuhr zusammen, griff nach dem Hörer. »Paul!« rief ich.
»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen«, sagte Franca.
Ich schluckte.
»Wie geht es dir?«
»Gut, nehme ich an. Ich bin in Lausanne und habe um drei eine Sendung. Ich wollte dich fragen, ob wir zusammen essen gehen können. Oder triffst du dich mit deinem Paul?«
Ich antwortete nicht gleich. Unvermittelt fühlte ich ganz intensiv, wie der Hörer in meiner Hand lag. Zu den Untugenden, die Bruno mir vorwarf, gehörte meine 40
Fähigkeit zur völligen Unaufmerksamkeit. Wenn ich mich ganz bestimmten Empfindungen überließ, verlor ich den Kontakt zu dem, was man im allgemeinen als Außenwelt bezeichnet. Franca hatte sich schneller daran gewöhnt als irgend jemand anderer, Paul mit inbegriffen, und wartete nun mit freundlicher Ungeduld, daß ich etwas sagte.
Franca Uthof hatte früher als freie Journalistin gearbeitet und beim Globus-Verlag ein Buch über den Tessin veröffentlicht. Seit fünf Jahren war sie beim Westschweizer Rundfunk, arbeitete drei Tage in Genf und zwei in Lausanne. Ihr widerspenstiges Haar, ihre dichten Brauen, die sie niemals auszupfte, verdankte sie ihrer Mutter, einer italienischen Künstlerin, ebenso ihr lautes Lachen, ihre wohlgerundeten Hüften. Ihr Vater war ein Jurist aus Hannover, ruhig, kühl und pedantisch. Von ihm hatte sie ihren Ordnungssinn, ihre Zuverlässigkeit, ihr Organisationstalent. Franca war mal mit einem Schweizer verheiratet gewesen.
Ihre kurze Ehe hatte ihr einen Schweizer Paß und eine solide Verachtung für das scheinheilige Bürgertum beschert. Sie hatte mir beigebracht, wie man einen Zeitungsbericht redigiert, wie lang er sein soll, welche Aspekte darin berücksichtigt werden müssen. Von Franca wußte ich, daß man nicht nur Aufträge auszuführen braucht, sondern der Redaktion auch selber Themen vorschlagen kann. Franca hatte sich gewundert, wie schnell ich mit diesen Informationen fertig wurde. Für mich waren solche Dinge interessant, aber belanglos. Sie hingen nur wenig mit dem zusammen, das zu tun sich gelohnt hätte. Daß ich sie konnte, zeigte sich in der Art, wie ich sie ausführte. Und ich brauchte mich nicht einmal dabei anstrengen. Für mich war das nichts Neues, wirklich nicht. Es war schon immer so gewesen.
Sekunden verstrichen, bevor ich Franca endlich eine Antwort gab. »Wir haben nichts abgemacht. Doch, ich komme gern.«
»Ausgezeichnet! Um halb eins bei Salvatore, geht das? Ich rufe an und bestelle einen Tisch.«
Ich schaltete meinen Computer aus, machte mich zurecht und fuhr nach Lausanne.
Die Trattoria befand sich auf der anderen Straßenseite gegenüber des Rundfunkgebäudes. Bei schönem Wetter standen die Tische in einem kleinen Hinterhof unter einer Laube. Es roch nach Holzkohle, Oregano und frischer Pasta.
Salvatores Mutter fertigte ihre Teigwaren selbst an und war heikel in der Auswahl ihrer Fisch- und Fleischwaren. Die Trattoria war bekannt und
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