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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Sekunden sein Gesicht zu verbergen. Er hob es auch gleich wieder und fuhr fort:
    »Doch die Luftangriffe wurden immer häufiger, bei Tag und bei Nacht. Lange bevor Alarm ertönte, wurden die Leute durch das Radio gewarnt. Der Anflug der feindlichen Maschinen auf Tokio konnte im voraus gemeldet werden. Man wußte, daß sich die Amerikaner an dem weißen Gipfel des Fuji-Berges orientierten, bevor ihre Staffeln die nahegelegene Stadt überflogen.
    Im Januar erlebte Tokio wieder einen furchtbaren Luftangriff. Der Angriff fand an einem Samstag, um ein Uhr mittags, statt. Die Entwarnung war bereits gegeben worden, als die fliegenden Festungen ihre Sprengbomben über Ginza und Nihonbashi abwarfen. Eine Bombe fiel auf eine U-Bahnstation. Mehrere tausend Menschen, die dort in aller Eile Schutz gesucht hatten, verloren ihr Leben.
    Dasselbe in der Nähe des Redaktionsgebäudes der Asahi – der ältesten japanischen Tageszeitung –, wo eine Eisenbahnunterführung auf die Menschen einstürzte, die sich unter ihr drängten. Das ganze Ginzaviertel war ein Trümmerhaufen.«
    Kens Finger tasteten nach dem Becher. Ich goß ihm wortlos Tee ein. Er nahm einen Schluck, bevor er weitersprach.
    »Inzwischen war es März geworden. Isami hatte ihre Krankheit überwunden, war aber noch schonungsbedürftig. Eines Abends war wieder Fliegeralarm. Meine Eltern hatten keine Zeit, in den Luftschutzkeller zu gehen; schon donnerten die ersten Explosionen. Diesmal fielen die Bomben ganz in der Nähe. Das Haus zitterte, die Scheiben zerbarsten, der Wind fegte durch alle Räume. Meine Eltern warfen sich mit uns zu Boden. Nach einer Weile entfernte sich das Dröhnen; der Bomber zog ab. Wie Isami mir später erzählte, trat sie, als Stille einkehrte, mit unseren Eltern vor die Tür, um das Ausmaß der Zerstörungen ins Auge zu fassen.
    Am Ende der Straße – genau dort, wo sich Isamis geliebte Schule und das Haus der Erzieher befunden hatten – war nur noch ein riesiger Krater sichtbar, in dem ein Wasserstrahl sprudelte, der jedoch immer dünner wurde. Bis weit zum Horizont, so schien es Isami, waren alle Häuser zerstört. Und während sie sprachlos und wie gelähmt dastanden, brach ein letztes Stück Mauer zusammen, fegte Schutt- und Staubmassen in den Bombenkrater. Als sich der Staub legte, faßte Kenji seine kleine Tochter behutsam am Arm und führte sie zurück ins Haus.
    Da es Isami besser ging, entschlossen sich meine Eltern, unverzüglich abzureisen. In den Bahnhöfen herrschte das größte Gedränge. Die an die Front beförderten Reservisten hatten Vortritt. Die Züge wurden auf den Gleisen hin und her geschoben. Sobald eine Abfahrt gemeldet wurde, stürmten Menschenmassen mit Paketen, Kisten, Körben und Säcken alle Wagen. Wir lagerten auf dem Bahnsteig inmitten der vielen Tausenden, die Tokio verlassen wollten, als am Morgen des zweiten Tages starker Wind aufkam. Am Nachmittag zogen hohe Wolkenfelder auf. Bei Nachteinbruch erreichte der Wind die Heftigkeit eines 332
    Frühjahrstaifuns.«
    Ken stellte den Becher auf den Tisch. Ich sah, wie seine Hand leicht zitterte.
    »Im Krieg denkt man zweckmäßig; für die Amerikaner war es der beste Augenblick, die Bomber starten zu lassen. Eine einzelne B 29 hatte aus einer Höhe von 10.000 Metern den ganzen Tag lang die Stadt beobachtet. Ein Aufklärer. Um elf Uhr abends meldeten Radio und Sirenen den Angriff. Die Amerikaner haben Filme über diese Begebenheit gedreht. Normal, wir an ihrer Stelle hätten das auch getan. Kurz vor Mitternacht waren sie also da. Zum ersten Mal flogen sie auf verschiedenen Ebenen an, in mittlerer oder niedriger Höhe. Dreihundert fliegende Festungen, jede Maschine beförderte eine Bombenlast von sieben bis acht Tonnen.
    Bomben von einer neuen Art, eine hochbrennbare Mischung aus Öl und Gelee, einer Vorform von Napalm, die hier zum erstenmal zum Einsatz kam. Über Tokio senkte sich die Dämmerung des Todes, die Morgenröte des Sieges erhob sich über den USA. Im Licht der sogenannten ›Christbäume‹ tauchten die Bomber hinab, hinab zu den verrückten Schrecken der Zerstörung, zum unermeßlichen Schmerz und Grauen. Zuviel Klarheit liegt über der Stadt, wo der Puls der Brände flattert und Straßenzüge in Flammen aufgehen. Unermüdlich donnern neue Verbände heran, werfen Bombenteppiche. Die Amerikaner gehen aufs Ganze. Sie hassen uns, kein Zweifel trübt ihr reines Gewissen. Haben wir nicht in China, in Malaysia, auf den Philippinen genug gemordet und

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