Silbermuschel
gefoltert?
Die Flammen greifen wie ein Waldbrand von Haus zu Haus, von Viertel zu Viertel. Rauch und Staub hüllen die ganze Stadt ein, darunter flackern die Feuer so grell und wild, daß die genaue Wahrnehmung das Auge übersteigt. Ganze Stadtbezirke gehen in Flammen auf, als schmelze und verbrenne dort die Substanz der Welt. Der Sturmwind wirbelt brennende Bretter und Mattenfetzen durch die Luft, die überall neue Brände auslösen. Weißt du, was ein Tobihi ist? Ein Feuersprung? Wenn Wind und Feuer sich gegenseitig entfachen, entstehen glühende Wirbelstürme, die mit ihrem rasenden Sog durch die Straßen fegen.
Noch zwölf Stunden später wüteten die Flammen. Der Explosionsdruck hatte das Bahnhofsgebäude, wo wir uns aufhielten, beschädigt. Der Stadtteil gehörte zu jenen, die wie durch ein Wunder verschont geblieben waren. Isami erzählte mir, daß sie die Flammen weißlich hochschlagen sah, während das blutrote Zentrum mit dem Dröhnen der Geschwader zu pulsieren schien. Daß die Menschen auf den Bahnsteigen sich kaum rührten. Alle standen still, wie erstarrt. Die Bomber flogen so niedrig, daß die metallenen Tragflächen im Feuerschein aufblitzten, scharf und bläulich wie Säbel, während die Bombenketten ihre glühenden Spuren durch die Nacht zogen. Mein Vater hielt Isami an sich gepreßt. Und sie erzählte mir, wie sie auf einmal sein Gesicht erblickte, tränenüberströmt, im rötlichen Schein der Flammen. Da habe sie ihrem Vater beide Arme um den Hals geworfen, habe ihn angefleht, nicht zu weinen, nie mehr zu weinen. Sie habe das Gesicht ihres Vaters mit ihren kleinen Händen gestreichelt, ihm mit leiser, ruhiger Stimme Trost und 333
Mut zugesprochen. Mayumi indessen saß am Boden und hielt mich auf dem Schoß.
Im Schmerz der Verzweiflung schwankte ihr Kopf hin und her. Ich jedoch, in warme Decken gewickelt und eng an ihr Herz gepreßt, schlief friedlich in dieser Nacht, als über Tokio das Feuer vom Himmel fiel…
Schließlich gelang es uns, die Stadt zu verlassen. Wir fuhren in überfüllten, stundenlang auf Stationen hin- und hergeschobenen Zügen, fröstelnd, hungrig, den müden Blick auf die Frühjahrslandschaft gerichtet, die langsam vorüberglitt.
Weiter durch finstere Tunnel, durch rauchende Fabrikanlagen, über die donnernden Eisenbahnbrücken der großen Ströme, immer weiter südwärts, nach Hiroshima.«
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22. KAPITEL
K en erzählte weiter, mit geschlossenen Augen. Seine Haut war kalt. Ich legte beide Arme um ihn, ließ ihn meine Wärme spüren.
»Hiroshima war ein paarmal bombardiert worden, aber ohne viel Schaden. Wir wohnten zuerst bei den Großeltern. Weil sich aber schon Mayumis Brüder mit ihren Familien dort aufhielten, machten sich meine Eltern auf die Suche nach einer anderen Bleibe. Der vielen Flüchtlinge wegen war es schwer, eine Unterkunft zu finden. Schließlich konnten wir in ein bescheidenes Haus am Stadtrand einziehen.
Über ein Jahr lang kamen wir dort zur Ruhe. Das Haus lag in einem ländlichen Bezirk unweit des Berges Furue. Meine Eltern waren froh, über einen winzigen Garten zu verfügen, denn Nahrungsmittel waren streng rationiert. Kenji pflanzte Gemüse an, hauptsächlich Kürbisse und Süßkartoffeln. Wir machten Tee aus Blättern, die Zähne putzten wir uns mit dem Zeigefinger und Salz. Mayumi strickte und nähte, machte unermüdlich Neues aus alten Sachen. Aus den einfachsten Stoffresten zauberte sie etwas Hübsches, das unser Kinderherz erfreute. Sie selbst trug die kurze Kimonojacke und die dunkelgemusterten Pluderhosen, die für alle Japanerinnen in Kriegszeiten Vorschrift waren. Dazu hatten wir Strohsandalen an wie die Bauern. Im Sommer ist es sehr heiß in Hiroshima, aber in den Wintermonaten sinkt die Temperatur unter Null. Um Holzkohle zu sparen, wärmte meine Mutter Steine im Herd, die sie in Tücher einwickelte. Wir legten sie in unsere Betten oder trugen sie mit uns herum in einer Gürtelschärpe. Das Wasser schöpften wir aus dem Brunnen der Nachbarin. Im Winter mußten wir die Eisschicht jeden Morgen zertrümmern. Das WC bestand aus einem Loch in einem Bretterhäuschen.
Ich wurde inzwischen vier Jahre alt, lief überall herum und schaute mir alles ganz genau an. Ich beobachtete Tiere und Insekten, sah zu, wie die Pflanzen keimten und wuchsen. Japanischen Kindern werden eine Menge einfacher Lieder und Gedichte beigebracht. Sie befassen sich mit den kleinen Lebewesen: den Käfern, Grillen, Fröschen, Schildkröten und Vögeln. Sie stehen
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