Silbermuschel
aufzurüsten‹ Tokio würde gerettet, wenn jede Familie ihr Haus selbst schützte.
Mayumi und Kenji mißtrauten der Propaganda. Sie fühlten sich in Tokio nicht mehr sicher und beschlossen, trotz der mühsamen Reise, quer durch den Archipel zu Mayumis Eltern nach Hiroshima zu fahren, wo alles ruhig war. Zwei Tage vor der Abreise hatte Isami plötzlich hohes Fieber. Das Wetter war regnerisch und eiskalt, die Stromversorgung knapp, die Kohle rationiert. Isami schleppte schon längere Zeit eine starke Erkältung mit sich herum. Dem Kind eine tagelange Reise im Gedränge der überfüllten Züge zuzumuten war ganz unmöglich. Meine Eltern fanden sich schließlich damit ab, zu warten, bis Isami wieder gesund war.
In der Nacht vom 29. zum 30 . November 1944 heulten die Sirenen: Fliegeralarm. Der erste Nachtangriff. Kenji und Mayumi hüllten ihre Kinder in Decken und taten zum erstenmal das, was sie fortan jede Nacht und auch mehrmals jede Nacht tun mußten: hinaus aus dem Haus, in Wind und Regen, um sich mit den Nachbarn in einen finsteren, feuchtkalten Unterstand zu pferchen.
Meine Erinnerungen, zurückreichend in jene erste Zeit meines Lebens, wenn Kinder beginnen, in den Farben, Lauten, Berührungen und Geräuschen um sich herum die Welt zu entdecken, diese Erinnerungen sind für mich mit Finsternis und Feuer, mit Rauch und Schrecken verbunden. Der Gestank von brennendem Holz, 330
von verstopften Kloaken, das Prasseln der Flammen, das Heulen der Sirenen, die Kälte, die Nässe, der Schmutz. Aber ich erinnere mich auch an die Wärme der Decken, den Geschmack süßer Milch und an den Klang einer leisen, zärtlichen Stimme.
Meine Mutter trug mich auf dem Rücken, wie es in Japan üblich ist. Sie war die warme Hülle zwischen mir und der Angst. Sie atmete still ein und aus… ein und aus. Ihre Atemzüge, ihre Herztöne waren es, die mich beruhigten und einschläferten. Über uns kreisten die Bomber; tief in meiner Erinnerung höre ich noch das gespenstische Brummen. Ein Brummen, das gleichzeitig von überall herkam, aus den Tiefen des Himmels und dem Schoß der Erde. Im Rhythmus pulsierender Donnerschläge flogen die B-29 wie schwarze Schatten vorüber, verfolgt von den Abschüssen der Flak- und Sperrfeuer. Das dauerte endlos. Die Bevölkerung sah ohnmächtig zu, wie die Häuser in Flammen aufgingen. Dann entfernte sich das Dröhnen: Die Bomber zogen ab. Die Sirenen heulten auf.
Entwarnung. Nun erfüllte Stimmengewirr alle Straßen. Die Menschen erwachten aus der Reglosigkeit des Entsetzens, stürzten aus den Luftschutzkellern und machten sich an die Arbeit, um die Brände zu löschen. Das feuchte Holz entwickelte stickigen Rauch, der sich verbreitete wie Nebel. Die Menschen husteten und würgten. Viele hatten sich ein Tuch vor Mund und Nase gebunden.
Man arbeitete im Licht der Suchscheinwerfer oder Petroleumlampen, folgte den Anweisungen, die die Zivilschutzgruppen durch Lautsprecher gaben. Leute bildeten Ketten, reichten sich Eimer voll Wasser weiter, andere brachten Schubkarren voller Sand herbei. Oder sie schaufelten Schlamm aus den Gärten und klatschten ihn mit schneller Bewegung in die Brandherde, um damit die Flammen zu ersticken. Jedermann half. Es gab keine Panik, kein unnützes Hin- und Herlaufen. Jeder wußte, was er zu tun hatte.
Eng an meine Mutter gedrückt, hörte ich das Prasseln des Feuers, das Krachen der einstürzenden Gebäude, die Explosionen, wenn Kohlengase, mit Luft vermischt, den Flammenpunkt erreichten. Ich hörte das Schreien der Kinder, das Wehklagen der Verwundeten. Und weil meine Mutter mich liebte, kann ich mich an diese Ängste erinnern, ohne erneut von ihnen ergriffen zu werden. Isami erlebte das alles viel bewußter. Sie war ein nachdenkliches Kind, sprach ihre eigene Geheimsprache, lauschte in ihre eigene Stille hinein und bewahrte alles in ihrem Herzen.
So geschah es fortan jede Nacht. Trotz der Anordnungen der Regierung versuchten immer mehr Leute, Tokio zu verlassen. Doch wir konnten nicht weg.
Isamis Zustand verschlimmerte sich: Lungenentzündung. Alle Krankenhäuser waren überfüllt, die Medikamente den Soldaten vorbehalten. Meine Schwester phantasierte und glühte vor Fieber. Einige Nächte lang zogen meine Eltern es vor, bei Fliegeralarm im Haus zu bleiben, statt sich mit dem schwerkranken Kind in den naßkalten Luftschutzkeller zu begeben.«
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Ken schwieg einen Atemzug lang. Er legte den Kopf auf meine Schulter. Doch es war wohl nur, um Atem zu schöpfen oder für
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