Silbermuschel
Berufswahl eingeschränkt. Dazu kam, daß sie nur halbtags beschäftigt sein konnte, und in Tokio standen die Arbeitslosen Schlange. Schließlich fand sie eine Stelle als Sprechstundenhilfe bei einem Kinderarzt, später tippte sie Krankengeschichten in der Universitätsklinik. Ihr Gehalt war bescheiden, das meiste Geld ging für mein Studium drauf, und einige Jahre lang lebten wir am Rande der Armut.
Tokio lebte ganz im Fieber des Wiederaufbaus. Neue Hochhäuser veränderten das Stadtbild, der Verkehr wurde zu einem Alptraum, die Stadt erstickte in Abgasen. Ich wuchs heran und war kein Musterschüler. Selbstbewußtsein besaß ich im Übermaß; mir fehlte dringend ein Vater, der mich in die Zange nahm. Dazu kam meine Körpergröße. Heute gehören hochgewachsene Jugendliche zum japanischen Straßenbild. Damals – in den sechziger Jahren – fiel ich auf. Und ein kaltschnäuziger Sechzehnjähriger, der auf einen schimpfenden Lehrer herabgrinst, macht sich unbeliebt. Ich hatte eine große Klappe und entwickelte dazu noch einen starken Hang, Meinungsverschiedenheiten handgreiflich aus dem Weg zu räumen.
Was die schlaksigen, kaugummikauenden ›GIs‹ in Tokio eigentlich zu suchen hatten, war mir nicht ganz klar. Ich fand sie – wie alle Gleichaltrigen –
nachahmenswert. Alles Japanische kam mir kompliziert, veraltet, um nicht zu 357
sagen ›unterentwickelt‹ vor. Ich gab mich schnodderig, überheblich und cool. Daß Bescheidenheit eine Zier sei, stand nur noch in den Büchern meiner ledig gebliebenen Schwester. Mir Gedanken darüber zu machen, warum sie eigentlich nicht heiraten wollte, kam mir keine Sekunde in den Sinn. Ich nahm an, daß sie nicht den Richtigen fand.
Ich war sechzehn geworden, als wir auf der Schulreise die Halbinsel von Kyûshû, im Süden des Archipels, besuchten. Ich hatte ein Mädchen im Kopf und achtete kaum auf das, was wir sahen und hörten. Sachiko war ein gutes Jahr älter als ich, galt als das hübscheste Mädchen der Klasse und hatte bei den Jungen – aus Gründen, die mir nicht so recht einleuchteten – einen fabelhaften Ruf. Ich merkte bald, daß ich ihr nicht gleichgültig war. Auf der Rückreise kamen wir durch die Gegend von Honshu. Der Lehrer wollte, daß wir in Hiroshima den heutigen Heiwa Kinen Koen, den Friedens-Gedächtnispark, aufsuchten. Mir paßte die Sache überhaupt nicht. Ich hatte keinem gesagt, daß unsere Familie den Abwurf der Atombombe miterlebt hatte. Im Japan der sechziger Jahre riskierte man ein mitleidiges Anstarren und im schlimmsten Fall eine Behandlung, welche derjenigen der heutigen Aidskranken sehr nahekommt. Also lieber nicht davon reden. Folglich gab ich mich blasiert und gelangweilt und sagte, das Zeug interessiere mich nicht. Doch als wir durch die Stadt gingen, spürte ich ein seltsames Gefühl im Magen, ein Zittern in den Kniekehlen, und beim Anblick des Genbaku Dômu, der Atomkuppel, wurde mir schlecht. Im Museum warf ich nur einen kurzen Blick auf die Fotografien, die Kleiderfetzen, die Nachbildungen aus Wachs in ihren sauberpolierten Glaskästen. Im Helldunkel schienen Gespenster umzugehen. Nach einigen Schritten kam mir das Frühstück hoch. Ich machte unbemerkt kehrt, rannte die Treppe hinunter wieder nach draußen. Dort verzog ich mich in ein Gebüsch und erbrach mir fast das Herz aus dem Leib. Danach kaufte ich mir eine Cola, saß völlig erschöpft an der frischen Luft. Wahrhaftig, der Ort bekam mir nicht.
Wir fuhren noch am gleichen Tag weiter. Nachts, in der Jugendherberge, sah ich plötzlich wieder meinen Vater, der sich in einen Eimer erbrach und auch das sterbende Pferd und den fliegenverklebten Gedärmehaufen. Ich wachte auf, biß gerade noch rechtzeitig in mein Kopfkissen, um einen Schrei zu ersticken, der sämtliche Mitschüler geweckt hätte. Nie wieder, schwor ich mir, wollte ich mit diesen Dingen etwas zu tun haben. Ich ahnte nicht, daß sie mich schon gefangen hatten, daß alle Erinnerungen, vor denen ich davonlief, mir viele Jahre später wieder ins Gesicht springen würden.
Am nächsten Tag war die Besichtigung einer Burgruine vorgesehen. Ich weiß nicht mehr, wie die Sache zustande kam, jedenfalls blieb ich mit Sachiko in der Jugendherberge zurück. Die Herbergseltern waren irgendwo beschäftigt, wir schlichen geduckt und kichernd an ihrer Loge vorbei. Sachiko hatte zielstrebig die Führung übernommen; ich folgte ihr in den Schlafraum der Mädchen. Sachiko 358
schloß die Tür und ließ den Schlüssel stecken, damit
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