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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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und steckte uns für eine Woche in Präventivhaft, wo sich unsere revolutionäre Begeisterung merklich abkühlte.
    Isami besuchte mich im Gefängnis. Ein Uniformierter führte mich wie einen Schwerverbrecher ins Besucherzimmer. Isami saß dort sehr ladylike, ziemlich 361
    provokativ in einen malvenfarbigen Kimono gehüllt. Ich durfte mich auch setzen und starrte durch die Gitter ausgesprochen frostig zu ihr hinüber. Der Uniformierte stand neben mir in strammer Haltung, mit einem Gummiknüppel bewaffnet. Ich war in meinem Stolz getroffen, zutiefst beleidigt. Isami ersparte mir ihren Spott, und auch die zu erwartende Moralpredigt trat nicht ein. Wir sprachen über belanglose Dinge. Plötzlich fragte sie mich, ob ich eigentlich mal erfahren wolle, was Mayumi damals empfand, als sie mit uns von Hiroshima nach Tokio zurückkehrte.
    ›Ach, du liebe Zeit, auch das noch!‹
    Sie hob höhnisch die Brauen.
    ›Hast du etwa keine Langeweile?‹
    Ich wollte mit einer Grobheit antworten, aber irgendwas hielt mich zurück. Sie öffnete ihre Handtasche, entnahm ihr einen dicken Umschlag, legte ihn vor sich auf den Tisch. Ich fühlte plötzlich, wie mir eine Gänsehaut den Rücken hinunterlief.
    ›Als wir nach Papas Tod wieder in Tokio waren‹, sagte Isami, ›hat Maman alles aufgeschrieben, was damals passierte.‹
    Ich spürte einen Kloß im Hals.
    ›Davon wußte ich nichts.‹
    ›Natürlich nicht‹, sagte Isami, ›du warst ja nur mit dir selber beschäftigt‹.
    ›Also gut.‹
    ›Sie schrieb nächtelang. Sie hatte Angst, daß die Erinnerungen mit der Zeit verblaßten oder daß sie durch ihre Krankheit das Gedächtnis verlieren würde. Am Tag bevor sie starb, brachte sie mir diesen Umschlag. Ich sollte ihn dir geben, wann ich es für richtig hielt.‹
    ›Und warum ausgerechnet hier und jetzt?‹
    ›Weil du endlich mal sitzt.‹
    Sie hätte es nicht treffender formulieren können. Ich brummte:
    ›Hast du mir zufällig Zigaretten mitgebracht?‹
    Sie gab dem Uniformierten ein Päckchen Peace, und ich geruhte zu grinsen.
    Für gewöhnlich rauchte ich eine andere Marke.
    Der Uniformierte untersuchte das Päckchen, bevor ich es haben durfte. Eine Feile steckte nicht darin.
    ›Du entsinnst dich noch‹, fuhr Isami fort, ›Maman hatte niemals richtig das Gefühl, daß unser Vater gestorben war. Sie sprach von ihm, als wäre er noch am Leben.‹
    Ich wollte nicht sentimental werden.
    ›Das weiß ich nicht mehr.‹
    ›Wirklich nicht?‹
    Ich wandte den Blick ab.
    ›Vielleicht doch.‹
    Der Uniformierte starrte an uns vorbei wie eine Anstandsdame, wenn sich zwei 362
    einen Zungenkuß geben. Isami sprach weiter mit leiser, klarer Stimme, als sei der Mann Luft.
    ›Maman sagte zu mir: Jede Nacht tritt Kenji in mein Zimmer und legt sich neben mich. Den ganzen Tag lebe ich nur für die Nacht. Und bald ist es soweit.
    Bald gehe ich zu ihm, und nichts kann uns trennen.‹
    Ich hätte gern geraucht. Aber das durften wir nur draußen im Hof, wenn man uns für eine Stunde an die frische Luft ließ.
    ›Hing sie wirklich so an ihm?‹
    Sie biß sich leicht auf die Lippen.
    ›Das solltest du doch wissen.‹
    Ich schluckte.
    ›Gomennasai. Es ist schon so lange her.‹
    ›So lange her?‹ Sie lächelte abwesend und schüttelte den Kopf.
    ›Es ist doch erst gestern geschehen‹.
    Ich hustete befangen. Isamis Sanftheit brachte mich fast aus der Fassung. Ich mußte die Zähne zusammenbeißen. Sie ließ mich nicht aus den Augen.
    ›Ich weiß, was du jetzt sagen willst.‹
    ›Ich wollte gar nichts sagen.‹
    ›Du wolltest sagen, daß Familiengeschichten dich kalt lassen. Aber weil du nichts Besseres zu tun hast, als deine vier Wände anzustarren, würdest du dir mal die Zeit nehmen, diese Briefe zu lesen.‹
    ›Für wen waren die denn? Für mich?‹
    ›Nein, für deinen Vater.‹
    ›Aber der war doch längst tot!‹
    Sie schürzte verächtlich die Lippen.
    ›Kenchan, du bist noch dümmer, als ich dachte. Aber das ist dein Problem. Ich habe viel zu tun und kann dir nicht helfen.‹
    Der Umschlag machte den üblichen Umweg über den Uniformierten. Dieser zog mit weißen Handschuhen ein paar Bögen hinaus und vergewisserte sich, daß meine verstorbene Mutter mich nicht zum Kampf gegen die Imperialisten aufrief.
    Isami schenkte ihm nicht einmal einen Blick.
    Wieder in der Zelle, betrachtete ich Mutters schöne, fließende Schrift. Aus der kleinen Birne an der Decke fiel trübes Licht. Vor meinen Augen wehten die Schriftzeichen wie

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