Silbermuschel
Pflichtlektüre. Ich las sie nicht. Und auch die Bilder in ihrem Atelier streifte ich nur mit einem flüchtigen Blick. Ich hatte die Nase voll von dem Zeug.
Was mich interessierte, waren schnelle Motorräder, Mädchen, Sport, schrille Klamotten und Rockmusik. So ungefähr in dieser Reihenfolge. Und bloß nicht mehr das Gejammer über den Zweiten Weltkrieg. Ich war ein mit Popcorn und Icecream gefütterter, großspuriger Draufgänger. Schirmmütze und Zigarette im Mundwinkel gehörten zu meinem Outfit. Keep cool, boy, sangen sie damals in
›West Side Story‹. Ich gab mir Mühe. Ein Mädchen fand, daß ich Georges Chakiris ähnlich sah, was mir ungemein schmeichelte. Ich ließ mir sofort die gleiche Frisur verpassen und trug eine Zeitlang nur noch rote Hemden.
Die frühen siebziger Jahre standen im Zeichen von Japans industriellem und technologischem Aufschwung. Es waren Zeiten voller Hoffnung und Lebenshunger. Ich brachte die höhere Schule hinter mich, jobbte in den Ferien als Kellner und erstand mein erstes Motorrad: eine Yamaha 125, keine Spitzenmaschine, aber nicht schlecht für den Anfang. Mit sehr unjapanischer Laxheit bereitete ich meine Aufnahmeprüfung für die Tokio-Universität vor. Bei der schriftlichen Prüfung war ich ziemlich verkatert – nicht vom Lernen – und gähnte dem überwachenden Professor ein paarmal ungeniert ins Gesicht. Die Namen der Glücklichen wurden von den Universitäten auf großen Tafeln bekannt gegeben. Ich dachte, jetzt hast du deine Chance verpaßt, und war um so mehr überrascht, als ich meinen Namen auf einer dieser Tafeln entdeckte. Nun war ich zum hoffnungsvollen Studenten der Tokio-Universität avanciert, die Krone aller 360
Universitäten des Landes. Daß die ehrenwerte Alma Mater ein schwarzes Schaf in ihren Schoß aufgenommen hatte, zeigte sich bereits am Abend der Eintrittsfeier, als ich mich in betrunkenem Zustand sehr hemmungslos gebärdete. Die anwesenden Bonzen furchten bekümmert die Stirn, die Eltern in feierlichem Gewand sahen beflissen woanders hin, und die Mädchen kicherten. Meine Schwester – im blauroten Kimono wunderschön anzusehen – nippte elegant an ihrem Glas und tat so, als seien wir nicht verwandt. Am nächsten Tag wachte ich mit Kopfschmerzen auf.
Ich belegte die Fächer Betriebswirtschaft und Elektronik. Daneben lernte ich Sprachen: Französisch, Englisch, Latein. Als Kompensation führte ich einer jener Rockerbanden an, die mit mitternächtlichen Motorradrallyes ihre Mitbürger um den wohlverdienten Schlaf brachten. Ich fuhr meine Yamaha zu Schrott, brach mir das Schienbein und lief einen Monat auf Krücken herum. Danach wurde ich ruhiger.
Eine meiner Freundinnen war Filmfanatikerin. Trieben wir es nicht gerade auf einem Futon, saßen wir im Kino. La Nouvelle Vague. Godard und Truffaut. Ich las Pieyre de Mandiargues, Paul Nizan, Le Clézio, Lautréamont. Und bald auch Jean-Paul Sartre, Rosa Luxemburg und Bakunin. Es war die Zeit der Studentenbewegungen, der Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg. Ich war schon im vierten Jahr, als es los ging. Die Eltern drückten ein Auge zu, wenn ihre vielversprechenden Sprößlinge durch Tokios Straßen randalierten. Die Gesellschaft duldete diese Demonstrationen. Die Permissivität der Nachkriegsjahre hatte eine unreife, ichbezogene Generation herangezüchtet. Ich organisierte Sitzstreiks auf dem Campus, verteilte Flugblätter und hielt flammende Reden. Als Kind und Halbwüchsiger hatte ich bewußt – soweit man in diesem Alter etwas bewußt tut –
gegen jede Autorität rebelliert. Übte man Kritik an mir, war ich überzeugt, daß sämtliche Kritiker – gleich, ob es sich um meine Schwester, die Professoren oder jemand anderes handelte – unrecht haben mußten. Ein weiterer Grund mag gewesen sein, daß ich am Zerstören Spaß hatte. Es war erregend, Steine zu werfen, Verkehrsampeln zu zertrümmern, Polizisten zu verprügeln. Und wenn ich nicht so viel zerstören konnte, wie ich eigentlich wollte, so konnte ich wenigstens Widerstand leisten. Meine Gedanken bewegten sich ständig im Kreis: Wie klug bin ich, daß ich weiß, daß ich nichts weiß. Wie einsichtig bin ich doch, mir meine Dummheit so weise vor Augen zu führen. Und wie beschränkt sind alle anderen, die nicht merken, daß ich eine Leuchte bin. Und so weiter, immer im Kreis.
Nach einer Straßenschlacht mit der Polizei landeten die Anführer – zu denen ich gehörte – mit Handschellen auf der Wache. Man unterzog uns einem Verhör
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