Silbermuschel
routinierter Umgangston es vermuten ließ. »Jugendempfindungen lassen sich nie ganz verleugnen. Vielleicht haben die Lebensumstände dich von etwas entfernt, das wichtig für dich war.«
»Jetzt ist es zu spät«, sagte ich leise.
»Es ist niemals zu spät.« Franca lächelte. »Bald bist du in Tokio und holst alles nach.«
Mein Herz hämmerte, trotzdem sagte ich ruhig:
»Ich weiß nicht, ob ich weg kann.«
»Wieso? Bist du irgendwo festgenagelt? Jetzt komm mir nur nicht wieder mit deinem Paul!«
Ich fuhr fort, auf Gründe hinzuweisen, die gegen ihren Vorschlag sprachen. Ich 43
mußte mit mir selbst ins reine kommen.
»Die Reise ist teuer.«
»Ich besorge dir eine Flugkarte zum günstigen Preis, ich habe da Beziehungen.
Und wenn du eine Artikelserie für den ›Waadtländer Boten‹ schreibst, kannst du die Spesen wieder herausschlagen. Außerdem suche ich eine Assistentin, die meine Geräte schleppt. Die Tagliatelle sind gut, willst du etwas Parmesan?«
Ich starrte sie selbstvergessen an, horchte weniger auf das, was sie sagte, als auf das, was ich empfand. Japan war das Heimliche in mir, das ganz Verborgene, das Unbekannte und das Vertraute. Seit ich mit Bruno verheiratet war, hatte ich nie wieder ein Buch über Japan in die Hand genommen, sämtliche Zeitungsberichte gewissenhaft übersehen. Plötzlich war mir, als ob sich mein Bewußtsein öffnete, als ob das tief Vergessene wieder emporsickerte, wie Wasser einen ausgetrockneten Pfuhl füllt. Irgend etwas in mir, seit Jahren erstarrt, bewegte sich gleich einem langsamen Räkeln.
Der Kellner wechselte die Teller aus und brachte die Leber. Ich merkte auf einmal, daß ich Hunger hatte, und langte kräftig zu. Franca reichte mir den Brotkorb. Ihre Lippen glänzten, ihre Augen leuchteten. Ihr ganzes Wesen, robust, sachlich und lebenshungrig, kam in ihren Worten und Gesten zum Ausdruck. Sie erzählte von Charles Weingartner, mit dem sie seit Jahren ein Verhältnis hatte. Er war Korrespondent in Tokio. Ich hatte ihn kennengelernt, als er mal auf Urlaub war, und wunderte mich immer noch, wie Franca an ihm Gefallen finden konnte.
»Mit zwanzig entsprach er meinen beschränkten Erwartungen«, parierte sie meine unformulierte Frage. »Wir hatten unser Praktikum beim ›Bieler Tagblatt‹ im gleichen Halbjahr begonnen und standen auf derselben Stufe. Inzwischen hat er eine Japanerin geheiratet. Noriko liest für ihn die Tagespresse durch.«
»Weiß seine Frau von dir?«
Franca tupfte sich die Lippen ab.
»Sie weiß jedenfalls, daß ich mit ihrem Charles nichts anfangen kann. Wir reden über Kollegen, und ich tische ihm den neuesten Studioklatsch auf. Charles ist lieb, aber ungebildet. Habe ich dir nie gesagt, daß er früher für den Touring-Club gearbeitet hat? Er weiß alles über Automotoren, aber vor der japanischen Geisteswelt steht er wie ein Ochse vor dem Fuji-Yama! «
Franca wollte mein Glas füllen, aber ich legte rasch meine Hand darauf. Franca stellte die Flasche wieder hin und erzählte weiter.
»Neben der Messe will ich noch etwas anderes sehen. Ich plane eine Sendung über neue japanische Musikformen für das zweite Programm, das von anspruchsvollen Leuten gehört wird. Die Japaner verstehen es meisterhaft, fremde Formen und Klangrichtungen der eigenen musikalischen Tradition anzupassen.
Aber auf diesem Gebiet muß ich selber forschen. Charles ist da viel zu beschränkt.«
Sie lächelte voller Zuneigung.
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»Ich meine es ernst, l’Arlésienne. Es wird Zeit, daß du mal aus deinen vier Wänden kommst. Und hör endlich auf, deinem Paul nachzuweinen. Es gibt noch andere Männer auf dieser Welt.«
Der Kellner holte die Teller weg. Franca steckte sich eine Zigarette an.
»Nun?« fragte sie. »Wirst du darüber nachdenken?«
»Das will ich tun, Franca«, sagte ich. »Vielen Dank.«
»Gut.« Sie nickte mir zufrieden zu und studierte die Karte.
»Wollen wir eine Cassata mit kandierten Zitronenscheiben essen?«
Ich lächelte sie an.
»Klingt wundervoll!«
Ein paar Stunden später hatten wir alles in die Wege geleitet. Franca würde mir bei der Lufthansa in Genf eine Ermäßigung aushandeln. Ich hatte auch bei der Bank nachgefragt, wieviel Geld auf meinem Konto war. Nicht viel. Ich mußte sehen, wie ich damit auskam. Japan ist ein teures Pflaster.
»Ich fahre mit Franca nach Japan«, sagte ich zu Paul. Ich hatte ihn im Verlag angerufen und mit ihm ein Treffen am Seeufer abgemacht. Es wurde Abend. Am Horizont, wo das perlmuttschimmernde
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