Silbermuschel
jene des geldschaufelnden Arbeitsroboters. Ich wollte meine Seele nicht irgendwo auf der Strecke lassen.
Ich begann, nach der Arbeit regelmäßig Isami zu besuchen. Midori und ich wohnten in Seijo, einem ganz anderen Stadtteil, aber den Umweg nahm ich gern in Kauf. Ich hatte Isami seit ein paar Monaten nicht gesehen. Mir fiel auf, daß sie schlecht aussah. Sie war schon immer überschlank gewesen, doch jetzt war sie 381
mager. Ihre Wangen waren hohl, die Haut spannte sich über die zarten Knochen, und unter ihren Augen waren dunkle Schatten.
›Du mußt mehr auf dich achten‹, sagte ich zu ihr. ›Du siehst abgespannt aus, O-Neesan.‹
›Und du rauchst zuviel‹, erwiderte Isami. Sie haßte es, wenn ich über ihre Gesundheit sprach. Sie stellte eine kleine Schale mit Reisgebäck auf den Tisch, ein Kännchen Sake und einen Aschenbecher. Es war wieder wie früher: das vertraute alte Haus mit der schönen Holztäfelung, die vielen Bilder und Isami, die mich mit ihrem ruhigen, etwas spöttischen Lächeln betrachtete, keine Fragen stellte und bereits alles wußte.
Inzwischen ging das Leben weiter wie gewohnt – doch nur eine Zeitlang. Norio wurde fünf und sollte im nächsten Jahr in die Grundschule. Er ähnelte immer mehr seiner Mutter, im Aussehen wie auch im Wesen. Er hatte Midoris Mienenspiel, ihre Ausdrucksweise, ihren Tonfall. Ein bildhübscher kleiner Junge, klug, egozentrisch und verwöhnt. Es war Midoris Sohn, der nur ihr allein gehörte. Wäre ich mehr zu Hause geblieben, hätte ich Midoris übergroße Vormacht ausgleichen können. Aber ich war den ganzen Tag in der Firma; abends fehlte es mir an Energie. Inzwischen stellte sich auch die Frage nach einem zweiten Kind. Der Altersunterschied war schon groß genug, es wurde höchste Zeit. Doch eine innere Stimme warnte mich. Und diese Stimme hatte nichts mehr mit meinen früheren Befürchtungen zu tun, sondern einzig und allein mit meiner Beziehung zu Midori.
Und nicht zu vergessen die Schwiegermutter, die ganz in der Nähe wohnte, fast täglich bei uns erschien und sich überall einmischte. Wenn ihre Mutter da war, benahm sich Midori sehr merkwürdig. Alles an ihr veränderte sich: die Haltung, die Bewegungen, die Stimme. Sie wurde zur Tochter, aber so, als würde sie eine Filmrolle spielen. Mama ging mit Midori Bettwäsche und Geschirr einkaufen, hängte Bilder an die Wand, die ihr gefielen. Sie wußte alles besser, von der Kindererziehung bis zur Auswahl des Waschpulvers, und Midori sagte immerzu: Ja, O- Kâ-san, nein, O-Kâ-san, du hast recht, O-Kâ-san.
Ihre dezente Art, sich zu kleiden, war vollständig der Mutter nachgeahmt.
Früher hatte ich es nie gemerkt; jetzt, da ich beide Frauen ständig zusammen sah, fiel mir das auf. Midori trug sogar den gleichen Lippenstift, nur eine Nuance heller.
Noch fünfzehn Jahre, und ich würde ein perfektes Duplikat von Mama im Haus haben. Mit schlankeren Beinen.
Ich jedoch hatte Midori geheiratet und nicht meine Schwiegermutter. Ich begann immer mehr, meine eigenen Wege zu gehen, trieb mich in Bars herum, manchmal mit Kollegen, doch meistens allein. Ich fühlte mich kaputt und leer. Die Welt existierte nur noch vor meinen Augen, außerhalb meiner selbst. Ich brauchte fast zwei Stunden bis nach Hause. Und überhaupt, was sollte ich dort? Mit der Schwiegermutter Konversation machen? Das Essen stand bereit, aber das konnte ich in jedem Restaurant haben. Für mich war es kein Familienleben, jeden Abend 382
in die Glotze zu starren oder zu lesen, während Midori stundenlang die Küche in Ordnung brachte, Schalen und Schüsseln pingelig abwusch. Wir hatten zwar eine Geschirrspülmaschine, aber die benutzte sie nur für Teller und Tassen. Brachte ich Norio ins Bett und tollte mit ihm herum, kam sie ein paar Minuten später mit vorwurfsvoller Miene ins Kinderzimmer: Ich machte den Kleinen nervös, er würde nicht früh genug einschlafen und morgen nicht rechtzeitig für den Kindergarten fit sein. Schließlich müsse er Disziplin lernen.
Midori hatte klare, ungetrübte Augen; ich spürte ihre unnachsichtige und pflichtbewußte Kühle. Diese Monotonie machte mich rasend. Ich wollte meine Gedanken, Empfindungen und auch das Lachen mit jemandem teilen, wollte alles geben und alles haben, verstehen und verstanden werden. Aber mit Midori erreichte ich überhaupt nichts, außer im Bett, und das war nicht genug. Ich streckte meine Hand nach ihr aus, und sie betrachtete diese Hand und sagte sich, was will der eigentlich
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