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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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nachgezogen. Ihre dichte braune Mähne hing hinter dem Kopf bis zu den Hüften herab. Während einer ganzen Zeitspanne verharrte sie völlig regungslos, die Augen fast geschlossen, das Gesicht maskenhaft entrückt. Es war, als ob sie die Zuschauer zur Ruhe zwingen wollte. Dann begann die Musik; die Tänzerin hob die Lider, bewegte sich; zuerst einen Finger nur, dann einen zweiten, und endlich die ganze Hand. Ihr Körper rührte sich wie der einer Schlafwandlerin. Jede Bewegung ließ unter der glatten Haut lange, feine Muskeln hervortreten. Die Musik war – soweit ich mich erinnere – ein sich endlos wiederholendes, ansteigendes Glockenspiel.
    Behutsam richtete die Tänzerin sich auf, wobei sie sich nicht streckte, sondern auf seltsame Art geduckt blieb. Die Knie waren abgewinkelt, der Schwerpunkt des Körpers lag im eingezogenen Becken. Zwischen den flatternden Lidern bewegten sich dunkle Augen, glitten über die Zuschauer hinweg, hafteten ganz kurz an 384
    meinen Augen. Mich durchzuckte es zutiefst; und während sich die Glieder der Tänzerin unendlich langsam regten, fühlte ich in mir einen heftigen Ruck, ein Schaudern, als wäre eine Saite gerissen. Von einem Atemzug zum anderen gehörte ich mir selbst nicht mehr an, fühlte ich mich von der Tänzerin gerufen. Sie zog die Brauen zusammen, legte die Finger flach auf die Augen. Dann senkte sie ihre Hände und stand vor mir wie eine Erscheinung. Ihr Atem ging tief und regelmäßig; ihre Pupillen waren völlig unter den Lidern verschwunden, die Augen, weiß wie Perlmutt, auf mich gerichtet. Von diesem glänzenden Blick ging ein Lockruf aus, eine Betäubung. Die Tänzerin war jetzt völlig in sich selbst vertieft, verloren an ihre Betrachtung. Und doch fühlte ich mich mitgezogen von diesem Blick, gewillt, ihm zu folgen, wohin er mich führte. Ich nahm teil an dem Geschehen auf der Bühne, wurde selbst zu Musik, eingewoben in ein verzaubertes Filigran, von allem Äußeren losgelöst. Ich atmete mit der Tanzenden im Gleichklang, ließ mich von ihren Bewegungen tragen. Meine verzauberte Phantasie schenkte mir die Bilder des Lebens, die sie vorspielte; ich sah wundersame Gestalten und Gebilde auftauchen, vorübergleiten und sich wieder auflösen. Ich gab mich ganz in ihre Hände, begierig, den Weg zu gehen, den sie mir zeigte mit jeder Drehung und Wendung ihres Körpers.
    Ich erkannte die mannigfaltigen Formen des Lebens, den Verfall, die Zerstörung, den ewigen Neubeginn. Ich war der Lurch in der Wassertiefe, eine emporblühende Ranke, ein Kreideschmetterling, ein Raubtier, das seine Gliedmaßen unschuldig dehnt. Und schließlich war ich ein Mensch auf der Suche nach sich selbst. Ich wußte in Gedanken, was ich in Gefühlen schon immer gewußt hatte, und stand vor neuen Rätseln, die ich nicht lösen konnte. Ich erlebte den Tod, der zugleich Auferstehung ist und ein Versprechen der Ewigkeit. Und als das Glockenspiel schwieg, als das Licht sich vergoldete und das Requiem von Fauré jubelnd in die Stille erklang, da wurde die Tänzerin zum Abbild der Menschengestalt, verwandelte sich in eine Skulptur. Nur der Körper blieb zurück, eine leere Hülle wurde zu Splitter und zu Staub, kehrte zurück zu den Muschelabdrücken im Felsgestein. Zum ewigen Kreislauf des werdenden und vergehenden Lebens, zu längst verschwundenen Sternenbildern, zur Schöpfung selbst.
    Die Musik erlosch mit dem Licht, und auf der Bühne wurde es finster. Dann flackerte Helle auf; die zu Stein erstarrte Tänzerin erhob sich in kühler, unversehrter Nacktheit. Und mit der aufwühlenden Erkenntnis, daß alles nur ein Spiel war, gab ihr Geist mich frei. Ich sah die Tänzerin vor mir auf der Bühne stehen, so nahe, daß ich sie hätte berühren können. Die Zuschauer lösten sich aus ihrer Ergriffenheit, applaudierten zuerst spärlich, dann herzlicher. Die Tänzerin verneigte sich. Ihre glitzernden Pupillen begegneten wieder meinem Blick, einen Atemzug nur, während ihr Gesicht unbeweglich blieb. Ich sah hinter den überpuderten Brauen einen Flaum von weichem Haar. Eine Haarsträhne war auf 385
    ihre Brust gefallen; ich sah diese Haarsträhne unter ihren Atemzügen fallen und sinken, und das Blut rauschte mir in den Ohren. Das Licht auf der Bühne erlosch erneut, dafür wurde es hell im Saal. Die Tänzerin war verschwunden, die Bühne leer.
    Die Zuschauer standen auf, drängten zum Ausgang. Ich wartete. Als alle draußen waren, ging ich zwischen den Stuhlreihen hindurch, stieß die Seitentür auf, die

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