Silbermuschel
Viermattenzimmer – ungefähr fünf Quadratmeter groß – mit einem Wandschrank für die Bettmatratzen, einer Kochnische und einem winzigen Bad. Die Kleider hingen an Haken an den Wänden. Die Tatami-Matten waren fleckig, die Gasrohre neben der Badewanne verrostet und brüchig. Im Spülstein stapelte sich schmutziges Geschirr, die Ventilation surrte, und die ganze Nacht tropfte ein Wasserhahn.
Antonia verdiente gerade genug, um sich durchzuschlagen. Sie hatte jährlich ein paar Engagements in Japan; im Juli würde sie nach Europa fahren. Sie war für ein Festival in Budapest verpflichtet. Anschließend tanzte sie in Berlin und London. Daneben gab sie Unterricht in Ausdruckstanz, nahm an Performances teil und zögerte auch nicht, als Straßenkünstlerin aufzutreten.
Antonia stammte aus der nordöstlichen Provinz Tohoku, dem früheren wilden Norden, dem ›Hinterland‹ Japans, wo das Leben manchmal sechs Monate im Jahr unter Schnee und Eis begraben liegt. Auch in dieser Gegend ist die Existenz der Menschen auf den Reisanbau gegründet. Doch das karge, ungezähmte Land, das raune Klima machten die Hungersnot zu einer oft wiederholten Erfahrung der Bewohner des Nordens. Armut, Erdverbundenheit und die Nähe des Todes prägten seit Jahrhunderten ihr Leben, und ich nehme an, daß Antonias Sehnsucht nach dem Tanz dieser Sensibilität entwachsen war. Ich merkte an ihrer Art zu sprechen, daß sie aus einfachen Verhältnissen stammte. Ihr Vater, ein Gemüsehändler, war früh gestorben. Die Mutter hatte sich wieder verheiratet. Der Stiefvater trank und vergnügte sich mit anderen Frauen. Mit siebzehn war sie durchgebrannt und nach Sendai gegangen. Sendai ist mit fast einer Million Einwohner die Hauptstadt der nördlichen Präfektur, und ihr Vergnügungsviertel Kokubuncho Dori hat sogar in Tokio einen gewissen Ruf. Antonia erzählte freimütig, daß sie als junges Ding eine Zeitlang auf den Strich gegangen war. Sie hatte in Striptease-Lokalen und Pornoshows gearbeitet, bis sie Dangoro Tange, dem Leiter einer experimentellen Tanzgruppe, begegnete. Sie wurde seine Geliebte. Dangoro Tange – der Name war mir nicht unbekannt. Ich erinnerte mich, in irgendeiner Zeitung gelesen zu haben, daß er zu den Gründern des Ankoku Butoh gehörte und vor ein paar Jahren 388
gestorben war.
›Er war fast siebzig, aber manchmal benahm er sich noch wie ein Kind‹, erinnerte sich Antonia, während ein Lächeln über ihr Gesicht huschte. ›Er sagte, ich sei ein Naturtalent und Butoh könne man nicht nur durch Übungen erlernen. Er wollte mir seinen Erfahrungsschatz mitteilen. Keine Form ist gut, meinte er. Ich will keinen perfekten Tanz sehen, ich will deine nackte Seele mit den Händen berühren. Zuerst wurde ich böse, weil ich glaubte, daß er sich über mich lustig machte. Ich sagte, ich sei ein ungebildetes Mädchen, die von solchen Dingen nichts verstünde. Er antwortete: Das ist besser! Er unterrichtete mich fünf Jahre lang.
Alles, was ich weiß, kommt von ihm. Wir lebten zusammen. Ich kochte und putzte für ihn und pflegte ihn, als er krank war. Er rauchte noch mehr als du, vier Päckchen Zigaretten am Tag. Er starb an Lungenkrebs. Du solltest aufhören zu rauchen.‹
Nach Dangoros Tod löste seine Gruppe sich auf. Für Antonia begannen schwere Zeiten. Zwischen den Butoh-Tänzern gab es eine Art Solidarität, ein Familiengefühl, das sie plötzlich entbehren mußte. Sie trat wieder in Pornoshows und drittklassigen Theatern auf, wobei sie ihre Eintrittskarten selbst auf der Straße verkaufen mußte. Ganz allmählich schaffte sie ihren Durchbruch und gewann als Tänzerin und Choreographin auch im europäischen Underground Anerkennung.
Sie erreichte dies, indem sie sich ’hartnäckig jeder Modernisierung verschloß und das stilprägende Vorbild Dangoros über seinen Tod hinaus am Leben erhielt. Ihr Tanz stellte die Emotionen voran und entwickelte seine Form auf natürliche Weise.
Ihre Technik – wenn man überhaupt von Technik sprechen konnte – war identisch mit der Sprache in der Dichtung, die Ideen und Gefühle vermittelt. Sie stellte die Wahrheit des Ausdrucks über die Perfektion der Darbietung, hatte alle natürlichen Gesten und Verhaltensformen in sich aufgenommen und ihre eigene Sprache erfunden.
Antonias Augen, ihre Bewegungen, ihre träge Art, sich auf dem Bett zu räkeln, wie sie es auch auf der Bühne tat, brachten mich eine Zeitlang fast um den Verstand. Bei unserer ersten Begegnung flogen wir aufeinander zu
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