Silbermuschel
hinter einer Unterführung. Der Raum war in grelles Neonlicht getaucht. Der Regen tropfte durch das Dach in Kochtöpfe, damit die alten Holzbretter nicht morsch wurden. An beiden Längsseiten hingen zerknitterte Kleider, Masken, Rüschenkostüme und verblichene Kimonos. Neben einem Spiegel war Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Ein Wandschrank war mit Büchern und Zeitschriften vollgestopft, daneben standen ein Plattenspieler und ein Kassettenrekorder. Überall stapelten sich, wie in einem Trödlerladen, Kisten und Kästen voller Kinderspielsachen, Stoff- oder Trockenblumen, Muscheln, verbeulter Hüte, bunter Tücher und Schals. Um einen vorsintflutlichen Ölofen standen ein Tisch und ein paar ausrangierte Stühle. In der Kochnische häuften sich Tassen und Becher, Dosen mit Kaffee, Tee, Zucker und halbleere Whiskyflaschen.
Am Anfang ließ Antonia ihre Schüler ohne Musik tanzen, manchmal bis zu einer Stunde, was mir sehr merkwürdig vorkam. Wenn sie dann Musik einspielte, 392
war diese oft so leise, daß sie nur die Grenze der Hörbarkeit erreichte. Die Bewegungsabläufe und die Musik liefen fast eigenständig nebeneinander her, was unserem traditionellen Theater ja entsprach.
Der Unterricht dauerte drei bis vier Stunden. Wenn Antonia den Schülern befahl, Schluß zu machen, brachen alle ihren Bewegungsfluß ab und setzten sich im Kreis auf den Boden. Antonia kommentierte dann die Leistung, korrigierte einige oder lobte sie. Ihre Übungen schienen von keiner einheitlichen oder verbindlichen Form abgeleitet. Die Frage nach dem Inhalt beschäftigte sie erst dann, wenn eine Aufführung geplant war. Doch ich merkte recht bald, daß sie alle Übungen als Vorbereitung für zukünftige Aufführungen verstand und unermüdlich die inneren Visionen ihrer Schüler festigte. Den Gegensatz zwischen dieser Welt und meinem eigenen Umfeld empfand ich in meinem Inneren wie einen totalen Bruch. Ich kam mit der U-Bahn direkt aus dem Büro, setzte mich in einen abgeschabten Ledersessel, trank Whisky oder einen scheußlichen Pulverkaffee. In meinem teuren Nadelstreifenanzug kam ich mir eingeschnürt, linkisch und albern vor. Am liebsten hätte ich mir das Zeug vom Leib gerissen, es in eine der Kisten zu den Requisiten gestopft. Das, was ich hier sah, war Leichtigkeit und Anmut, Beweglichkeit des Körpers und Freiheit des Geistes.
Nur zeitweilig war mir vergönnt, diese andere Welt verstohlen und heimlich zu erspähen. Ich betrachtete sie mit einer Mischung aus Begierde, Erregung, Neid und Verzweiflung. Immer stärker fühlte ich das Bedürfnis, mich aufgenommen zu sehen in dieser Welt voller Unschuld und Frische. Doch ich blieb starr in meiner Verkleidung eingezwängt, war genötigt zu handeln, zu befehlen, Dinge zu tun, die nicht im Einklang mit mir selbst standen. Der Regen tropfte in die Kochtöpfe, und bisweilen kam mir ein Fluch aus meiner Studentenzeit in den Sinn: Chikushô –
Scheiße! Ich ertappte mich mehrmals dabei, ihn genüßlich vor mich hinzusagen.
Die Aussprache dieser Zischlaute hatte etwas Befreiendes an sich. Aber das war vorläufig alles. Was hätte ich tun können, das meinen Gedanken und Empfindungen entsprach? Meinen Hemdkragen öffnen, die Krawatte lockern, nach draußen gehen, um eine Zigarette zu rauchen; mehr brachte ich nicht zustande.
Dann sah ich mir wieder den Unterricht an. Und lernte dabei Dinge, die mir später, als ich meine eigene Musikgruppe gründete, nützlich waren. Aber das war viele Jahre danach, in einem anderen Leben. Als im Theater geprobt wurde, entdeckte ich die Magie der Kulissen, das Konkrete hinter dem Imaginären, die Maschinerie, aus der die Träume kamen. Auf den Fersen Antonias wanderte ich durch finstere Gänge, an Trennwänden und Bühnenbildern vorbei, atmete den Geruch von Puder, Schweiß und abbröckelndem Gips ein. Die halbnackten Tänzer, die mir auf diesem Weg wie weiße Schemen entgegentraten, stellten gleichsam die Verleugnung des Lebens und die Wiederbelebung der Toten dar, die von Eros besessene Vitalität und das dunkle Prinzip des Todes. Durch enge Türen und düstere Räume betrat ich eine verwunschene Welt, grottenähnlich, erfüllt von Geflüster und metallischen 393
Geräuschen, in denen schöpferische Dämonen wie Schatten schwebten. Plötzlich flammten grüne und rote Lichter auf, Scheinwerfer funkelten wie Kometenschweife; ohrenbetäubende Musik, von tausend Echos zurückgeworfen, riß die Stille in Fetzen. Die Bühne füllte sich mit Formen und Wesen. Im
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