Silbermuschel
ein scheues Tier. Du kannst auch den Geist deiner verstorbenen Eltern empfangen oder eines Menschen, der dir sehr nahe stand.‹
›Und wie höre ich, daß er mich ruft?‹ fragte ich.
Sie lag auf der Seite; um ihre kleinen Brüste bildeten sich Falten, von weichen Schatten erfüllt. Ich streichelte sie mit den Fingerspitzen. Es war Juni, die unangenehmste Zeit in Tokio. Es regnete seit Tagen, der Himmel war grau verhangen, und es war so kalt und feucht in dem Zimmer, daß Antonia ihre einzige Wärmequelle, einen alten elektrischen Heizofen, angemacht hatte.
›Auf verschiedene Arten‹, sagte sie, ›durch einen Tanz oder durch eine Musik oder durch irgendein tiefes Gefühl. Sobald die Geister sich dir nähern, erfüllt sich durch ein Zeichen zwischen ihnen und dir etwas, das gesehen oder gehört werden kann. Und hast du sie einmal herbeigeholt, wirst du nie wieder der gleiche sein, der du vorher warst: Dein Leben steht unter dem Schutz der Verstorbenen, du spürst ganz neue Kräfte in dir. Mit den Toten nimmst du das Universum in dich hinein.
Du nimmst das Große ins Kleine auf und machst es dir zu eigen. Vor den Menschen kann man sich fürchten, vor den Toten nicht – niemals.‹
Mir lag auf der Zunge, zu sagen, das seien doch alles Hirngespinste. Doch ich schwieg. Um ganz aufrichtig zu sein: Ich glaubte ihr kein einziges Wort. Vielleicht unterlag sie einem Wahn, nach dem Muster der rituellen Magie unserer archaischen Glaubenswelt. Solche Menschen waren in der Hand einer Gottheit.
Und so fragte ich lediglich:
›Hast auch du einen Geist in deinen Körper aufgenommen?‹
Ihr Ausdruck veränderte sich. Ihre Augenlider flatterten, und sie keuchte leicht, es war wie ein unterdrücktes Schluchzen.
›Ja. Ich rief Dangoro zu mir, sobald er gestorben war. Ich fürchtete mich vor dem Alleinsein, ich brauchte ihn so nötig! Jetzt lebt er in meinem Körper. Wenn ich aufstehe, setzt er sich hin. Wenn ich sitze, dann steht er. Bevor ich auf die Bühne trete, lächelt er mir zu und flüstert: Sollen wir tanzen, Antonia? Komm, wir tanzen! Und manchmal sagt er zu mir: Du bist in deinen Tanz vernarrt. Aber das, was du mit ihm ausdrücken willst, kannst du nur ausdrücken, wenn du nichts ausdrückst. Deshalb mußt du tanzen, bis du von deinem Körper erlöst wirst. Ja, Dangoro ist mein Lehrer. Ich habe ihn in meinen Körper geholt. Mein Körper ist nicht leer wie deiner‹.
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Unvermittelt warf sie sich auf mich, hämmerte mit beiden Fäusten auf meine Brust und schrie mich an:
›Du bist eine leere Büchse! Stopfe etwas rein, sonst wirst du eine Urne!‹
Ihre Augen waren dunkel und matt. Ich bemerkte ein paar goldene Funken, die in feuchten Tiefen spielten und wieder verschwanden. Ich wollte etwas sagen, doch sie ließ mir keine Zeit dazu; sie schlang beide Beine um mich, hielt mich fest wie in einer Schere. Sie gebärdete sich wie eine Wilde und trieb mich zum Äußersten.
Gern hätte ich gewußt, wie weit sie auch ihren Orgasmus kontrollierte. Das kann man ja fühlen. Doch wenn es soweit kam, vergaß ich sie zu beobachten. Und hinterher konnte mich selbst das Getöse der vorbeifahrenden U-Bahn nicht wecken.
Durch Antonia hatte ich meine ersten Kontakte mit der Theaterwelt. Die Künstler, mit denen sie verkehrte, waren Traumtänzer, fremdartig und exzentrisch.
Die Grenzen vertrauter Werte hatten sie längst verlassen, das Unvertraute war ihnen lieber. Materielle Sicherheit bedeutete ihnen nichts. Sie steckten ständig in Geldschwierigkeiten, halfen sich gegenseitig aus und lachten über sich selbst. Sie suchten immer das Provisorische, genossen die Brüchigkeit ihres Lebens als anregendes Gefühl. Ihre Sprache hörte sich derb, wenn nicht obszön an, doch ihre Körper waren gelockert, voller Poesie, und strahlten eine eigene Würde aus. Ihr Wesen war gütig und nachsichtig, vielleicht auch gleichgültig allem gegenüber, was nicht mit ihrem Tanz zusammenhing. Ihre Kunst jedoch war ihnen heilig, von einer Härte geprägt, die einer Kasteiung gleichkam. Dem Tanz gaben sie alles, was sie in sich hatten. Auf ihre Art waren sie Nonnen und Mönche; das Studio war ihr Kloster und die Bühne das Heiligtum, wo sie Gott in ihren Träumen begegneten.
Antonia gab zweimal in der Woche Unterricht. Sie hatte knapp ein Dutzend Schüler, jungen und Mädchen, die meisten schon Berufstänzer. Sie ließ auch Anfänger zu, sofern sie begabt waren.
Das Studio, ein einfacher Holzbau, befand sich unweit ihres Wohnhauses, gleich
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