Silbermuschel
Wachmann drückte auf einen Knopf; die glatten Metalltüren teilten sich lautlos vor mir. Eine Weile blieb ich draußen stehen, atmete tief die kühle Nachtluft ein. Es war noch dunkel, doch im Osten brach die Dämmerung bereits hervor und berührte die oberen Stockwerke der Hochhäuser mit silbernem Schein. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, müde zu sein, merkte nur, daß ich vom langen Sitzen steif geworden war. Geistesabwesend ging ich weiter, an meiner Pension vorbei. Vom Ozean her wehte salzige Luft. Die schmalen Seitenstraßen waren voller Schatten, alle Häuser verriegelt, alle Schaufenster dunkel. Ich vernahm nur noch das Geräusch meiner Schritte und das schwere Pochen tief in meiner Brust. Wie lange mußte ich mir das noch anhören, bis ich endlich sterben konnte?
Für einen Mann in deinem Alter benimmst du dich ziemlich sonderbar, sagte Isami.
›Ich glaube, ich habe genug. ‹
›Genug wovon?‹
›Vom Leben.‹
›Das bildest du dir nur ein.‹
›Am liebsten würde ich mich umbringen. Tot sein wie du.‹
›Tot? Wie kommst du auf den Gedanken, daß ich tot sein könnte?‹
Am Ende einer Gasse führte ein schmaler Kiesweg einem Bambushain entgegen, der zu einem kleinen Quartiersschrein gehörte. Die Torflügel standen offen. Im Gehölz kündigten unsichtbare Vögel das Nahen des Morgens an. Ein kleiner, kurvenreicher Weg führte zum Schrein, dessen Umrisse sich am Nachthimmel abzeichneten. Meine Schritte knirschten im Kies. Im Hain war es noch dunkel, ein Ort der Ruhe, des flüsternden Morgenwindes. Als ich Erde und Gras unter meinen Füßen spürte, warf ich meine Jacke zu Boden und setzte mich daneben. Da saß ich nun und umklammerte meine Knie wie ein verstörter Halbwüchsiger. Der üppige Duft fruchtbarer Erde füllte die Luft, die Bambusstauden knisterten wie Seide. So saß ich eine Weile und rührte mich nicht.
414
Nebelhaft und mehr in Bildern als in Gedanken sah ich den kleinen Jungen vor mir, der damals vor dem Fuchs stand, die Hand nach ihm ausstreckte, und der nicht gestorben war, obwohl er eigentlich hätte sterben müssen.
›Bist du eigentlich erwachsen, Kenchan, oder nicht? Vor anderen Leuten spielst du gern den Supercoolen, aber mich führst du nicht hinters Licht.‹
›Verstehst du das nicht, O-Neesan? Ich hatte mir eingebildet, ich brächte es fertig, nicht mehr an den Teufel zu denken. Aber er verfolgt mich noch immer und zerstört mein Leben.‹
›Du bringst mal wieder alles durcheinander‹, sagte Isami. ›Der Teufel erscheint nur, wenn du ihn rufst. Schick ihn endlich weg. Du hast ihn ja schließlich überlebt‹.
›Das war kein Glück für mich.‹
›Kenchan, das reicht jetzt. Ich will keinen Neurotiker als Bruder. ‹
Ich spürte, wie etwas in meinem Herzen riß. Ich konnte mir einbilden, mit Isami zu reden; in Wirklichkeit aber war sie dahin, und das für immer. Mit ihr hatte ich alle Menschen verloren, die ich liebte. Sie waren einfach weg. Verschwunden.
Und jetzt war ich allein. Ganz allein. Früher hatte ich das Gefühl, es würde alles besser werden, wenn ich älter würde und arbeitete und eine Familie hätte. Doch auch das war ein Trugschluß gewesen. Ich hatte mich geirrt damals, als ich Midori heiratete. Wir beide, in unseren nächtlichen Umarmungen so eng miteinander verbunden, gehörten entgegengesetzten Zeichen an. Sie würde sich mir gegenüber loyal und ehrlich verhalten, aber immer ein Stück von mir entfernt sein. Unsere Ehe war ein Abkommen zwischen zwei Fremden, vorteilhaft für beide Partner.
Midori würde den Pflichten, die dieses Abkommen ihr auferlegte, getreulich nachkommen. Mehr durfte ich nicht von ihr erwarten. Und Norio war noch ein Kind. Vielleicht würden wir eines Tages den Weg zueinander finden. Aber ich konnte Norio nichts vorwerfen, wenn er anders werden sollte als ich. Wir durften unserem Kind nicht verübeln, wenn es später seine eigenen Gedanken hatte, und sollten auch nicht versuchen, es uns ähnlich zu machen. Aber Midori würde es tun; und gegen sie war ich machtlos. Die Mutter ist die Heimat, aus der wir kommen, sie ist das Herz aller Dinge, das verlorene Paradies, die Erde, das Meer. Die Liebe zu ihrem Kind verleiht ihrem Leben Bedeutung. Mutter und Kind, das ewige Geheimnis: beide enger miteinander verbunden, als Mann und Frau es je sein können. Norio gehörte Midori. Ich war nur der Vater und stand abseits. Mein Körper wurde nur im Bett gebraucht und konnte sich dann zurückziehen.
›Ein bißchen mit den
Weitere Kostenlose Bücher