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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Nerven herunter, Kenchan? Das kommt nur, weil du zuwenig geschlafen hast. Mach bitte kein persönliches Drama daraus‹, sagte Isami.
    ›Ich kann nichts dafür, aber es geht mir unter die Haut. Früher habe ich versucht, andere Menschen zu verstehen. Jetzt könnte ich sie alle hassen. Da ist etwas in mir, ein Impuls, den ich nur loszulassen brauche. Gewalt kann sehr befriedigend sein. Ich habe schon einige Erfahrungen auf dem Gebiet.‹
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    ›Ich weiß, daß du Erfahrung hast.‹
    ›Du kannst dich nicht an meine Stelle versetzen. Dein Geist war zu redlich. Du hattest ja mit diesen Dingen nie etwas zu tun.‹
    ›Sei nicht so anmaßend. Bildest du dir etwa ein, daß es mir Freude machte, als Tugendbold zu leben? Daß ich mir niemals einen Mann und Kinder gewünscht habe? Natürlich versteh’ ich das und alles andere auch. Mich kannst du nicht schockieren, mußt du wissen. Du enttäuschst mich aber. Haß ist ein Gift, eine tödliche Droge. Sie zerstört dich bei lebendigem Leib. Sie ist der Anfang allen Übels. Es gibt Männer, die es lieben, Schmerzen zuzufügen, das weißt du besser als ich. Möchtest du auch dazugehören? Und das dein Leben lang mit dir herumschleppen? Ich will dir nicht böse sein, aber du könntest wenigstens rot werden.‹
    ›Es tut mir leid, O-Neesan. Mir geht zu vieles im Kopf herum.‹
    ›Mir scheint vielmehr, du hast nichts im Kopf. Noch immer denkst du, andere wären schlechter. Wir alle – die Schuldigen und die Unschuldigen – sind miteinander verknüpft. Wie weiße und schwarze Fäden; die Fäden weben unser Schicksal. Es genügt, an einem einzigen zu ziehen, und alles löst sich auf.‹
    ›Und die Moral von der Geschichte?‹
    ›Keine Gesellschaft kann für dich entscheiden, ob das, was du tust, falsch oder richtig ist. Ein militärisches Oberkommando schon gar nicht. Der Teufel hat eine Vorliebe für fortgeschrittene Technologien; sogar die Plomben in Mamans Zähnen waren damals radioaktiv. Reiß dich zusammen, Kenchan. Und werde nicht mitschuldig. Es gibt etwas in uns, das alles ausgleicht, mehr als nur Dunkelheit, ein größeres Licht. Und der Teufel kann dir das Leben nehmen, aber niemals die Wahl, ob du ihm dienen willst oder nicht. Ist das klar?‹
    Ich wälzte mich auf den Rücken, sah zum Himmel empor. Der Tag brach an; der Himmel war grün wie Kristall, und das Licht wehte hinab in funkelnden Wirbeln. Es war etwas Beruhigendes in dem reinen Gefühl des Windes. In der Kühle des Erdbodens unter mir. In der Gegenwart der Pflanzen und Bäume, der Insekten und Vögel. Ich verspürte bei all diesen Geräuschen und Gefühlen einen tiefen, allumfassenden Frieden, eine Geborgenheit, wie ich sie nur als ganz kleiner Junge gekannt hatte, als das mütterliche Wiegenlied alle Ängste und alle Schrecken bannte. Das Bambusgehölz schimmerte golden. Kaum stärker getönt als die zartfarbene Chrysantheme, beruhigte das Licht die brennenden Augen, kündigte den neuen Tag an. Hoffnung kam mit der noch milden Sonne, mit den wehenden Schatten und dem Tau, glitzernd wie Diamantenstaub. Tokio erwachte und begann zu tosen und zu dröhnen, und mein Herz klopfte im gleichen Rhythmus in meiner Brust. Leben gab es hier, intensives Leben voller Kraft und Energie, aber auch mit dem Unterton unbarmherziger, verbissener Hektik, die jeder Großstadt eigen ist.
    Viele Leute mochten die Vorstellung haben, das sei das Leben. Meinetwegen. Aber mich sollten sie fortan aus dem Spiel lassen. Wenn ich je einen Ehrgeiz dafür 416
    empfunden hatte – für materiellen Wohlstand, Karriere mit allem Drum und Dran –
    , so hatte ich jetzt jeden Sinn dafür verloren. Ein für allemal, dieses Thema war für mich erledigt.
    Ich richtete mich auf, klopfte die Erde von meinen Kleidern, streckte und dehnte meine verkrampften Muskeln. Ich fröstelte in der Morgenkühle, sehnte mich nach Kaffee, nach einer heißen Dusche. Ich fühlte, wie das Blut mich in warmen Wellen durchströmte; das Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen kam von weit her zu mir zurück. Ist es wahr, was Antonia mir sagte: daß der Geist eines Verstorbenen den Lebenden heimsucht und beschützt? Ihm Trost und Kraft schenkt, wenn er verzweifelt? Ihm das Gefühl vermittelt: Es ist gut, zu leben, es ist gut, auf dieser Welt zu sein? Durch Isami hatte ich zu mir selbst gefunden, zögernd noch, tastend, aber nicht mehr so unsicher wie früher.
    ›Möglicherweise mache ich es wieder falsch. Aber schließlich möchte ich doch richtig leben. Bisher habe

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