Silbermuschel
stützen.«
Er ging kurz vor elf und sagte, er käme bald zurück. Ich kniete auf einem Sitzkissen, in einer weißen Yukata von Ken, und stellte eine Liste der verschiedenen Instrumente für meine zukünftige Dunkelkammer auf: Belichtungsschaltuhr, Filterglasscheiben, Walzenentwicklungsmaschine. Ken hatte mir Prospekte in englischer Sprache besorgt, damit ich den richtigen Vergrößerer bestellen konnte. Dazu kamen alle möglichen Fotochemikalien: Bleich-, Stopp-und Sensibilisierungsbäder. Technische Hilfsmittel waren für mich nicht nur Werkzeuge, sondern eine Sprache, die man anwenden konnte wie ein Vokabular.
Meine Fotos sollten eine geistige Substanz zum Ausdruck bringen. Bilder waren nicht nur Bilder, sie erzählten, obwohl Lücken zwischen ihnen blieben, stets die gleiche Fabel. Alles hing von mir ab, ob ich Bildelemente hervorhob oder entfernte, die Bildschärfe steigerte oder schwächte, Masken einlegte, Farbabstufungen komponierte oder mit Kontrasten spielte. Eine im poetischen Glanz strahlende Hülle wollte ich in Vision verwandeln, eine Welt zwischen Meer und Himmel zur Gedankenwelt machen, zum Echo und zum Niederschlag.
Das Haus lag in tiefem Schweigen. Die Mittagssonne fiel auf die goldschimmernden Matten. Die Brandung ging ruhig. Das Haus bewachte mich mit freundlichen, weisen Augen, damit ich mich sicher fühlte. Ich meinte es in der Stille singen zu hören wie eine Flöte. Ich fühlte mich ganz vertraut in seiner Umarmung, glücklich, mit wachem Geist und klarem Verstand.
Ich bereitete meine Fotoausrüstung für den Nachmittag vor, als Motorengeknatter die Stille zerriß. Ken war es nicht, ich kannte das Geräusch seiner Maschine. Dieses war nur ein Moped. Das Knattern brach vor dem Haus ab.
Ich hörte das Gartentor quietschen und erhob mich, während ich die Schärpe meiner Yukata fester knotete. Hinter der matten Scheibe der Haustür zeichnete sich ein Schatten ab. Ein Schlüssel drehte sich behutsam im Schloß. Sekundenlang 481
hörte ich nichts anderes als meine Atemzüge und die Schläge meines Herzens.
Dann ging die Tür langsam auf: Ein Mädchen erschien auf der Schwelle.
Ich erkannte sie sofort; das sonnengebräunte Gesicht sehr glatt, der lange und zarte Hals, die vollen Lippen. Ihr Haar, das sie jetzt länger als auf dem Bild und mit einer Stirnfranse trug, lag wie eine glänzende Kappe um die schöngeformten Wangen. Sie war, stellte ich überrascht fest, größer als ich mit den hoch angesetzten Hüftknochen der jungen Generation. Sie trug knappe schwarze Shorts, die ihre sehr langen Beine entblößten, braune Beine, kräftig und knabenhaft, mit harten Knien und sehr schmalen Fesseln. Ihr ebenfalls schwarzes Top, eng und weit ausgeschnitten, lag straff um ihre kleinen, wunderschön runden Brüste. Die Knochen der Schlüsselbeine traten stark hervor, und ich sah, wie ihre ausgehöhlte Bauchgrube unter dem Stoff vor Erregung pochte. Ein paar Atemzüge lang rührte sich keine von uns. Wie Tiere, die sich auf einmal im Wald gegenüberstehen, blickten wir einander in die Augen. Sie wirkte ebenso erschrocken wie ich. Endlich machte ich den Mund auf. Meine eigene Stimme kam mir seltsam rauh vor.
»Sie sind doch Mitsuesan?«
Ich war so verstört, daß ich mein Japanisch vergaß und Englisch sprach.
Unwillkürlich nickte sie und deutete, ebenso unwillkürlich, eine Verbeugung an.
»Ich bin Julie«, sagte ich.
Sie starrte mich an, nickte.
»Kommen Sie doch herein«, sagte ich.
Sie zögerte. Dann schob sie ihre schwarzen Tuchschuhe von den Füßen und trat auf die Matten. Ihr Schritt war leicht und graziös wie der einer Ballerina. Sie hielt den Kopf gerade, den Rücken sehr straff. Sie ließ mich dabei nicht aus den Augen.
Ich fragte mich, weshalb sie ausgerechnet jetzt gekommen war. Ob sie wohl wußte, daß ich allein war?
Schließlich sagte ich:
»Ken ist nicht da.«
Sie spielte nicht die Dumme und versuchte auch nicht, mich hinters Licht zu führen.
»Ich weiß. Er wartet unten am Hafen, mit Nanami. Die Fähre hat Verspätung.«
Sie sprach ein langsames, korrektes Englisch. Ihre Stimme hatte zwar den mädchenhaften Klang, den ich bei ihrem Aussehen erwartete, aber sonst überraschte mich diese Stimme: Sie war kühl, klar, selbstbewußt.
Ich sagte nichts. Ihre Blicke wanderten im Zimmer umher, richteten sich dann wieder auf mich. Ihre dunkelbraunen Augen waren zu den Schläfen hinaufgezogen wie Antilopenaugen. Sie waren von so dichten Wimpern umgeben, daß man sie für
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