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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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künstlich hätte halten können; aber natürlich waren sie echt. Ihre Haut war bernsteinfarben; außer einem Hauch von purpurnem Lippenstift war sie ungeschminkt.
    »Sumimasen – entschuldigen Sie«, fuhr sie fort, mit einem leichten Vibrieren in 482
    der Stimme. »Ich bin gekommen, weil… ich etwas holen möchte.«
    »Dôzo«, sagte ich.
    Sie setzte erneut zu einer Verbeugung an, straffte sich im gleichen Atemzug.
    Mit weit ausholenden, zielsicheren Schritten ging sie an mir vorbei, stieß die Schiebetür zum Schlafraum so heftig auf, daß ich zusammenzuckte. Die Futons lagen noch am Boden, Ken und ich versäumten manchmal, sie in den Schrank zu legen. Ich spürte ein plötzliches Ziehen im Leib, während das fremde Mädchen durch das Zimmer ging, als sei es ihr eigenes. An der Wand stand eine kleine Kommode aus Weißholz mit einer Anzahl winziger Schubladen. Ich hatte so wenig Sachen bei mir, daß ich nicht alle geöffnet hatte. Jetzt zog Mitsue eine der unteren Schubladen heraus, wobei sie anmutig auf die Fersen sank. Sie nahm etwas heraus, richtete sich fast mit der gleichen Bewegung wieder auf. Stumm wandte sie sich mir zu, streckte mir ihre Handfläche entgegen, auf der zwei Ohrclips lagen: auffällige schwarze Steine mit glitzernder Straßfassung. Modeschmuck. Mein Puls beschleunigte sich, mein Kopf war wie benommen. Sie stand vor mir, wie ein Bild an die Wand dieses Zimmers gemalt. Ich stellte mir vor, wie Ken und sie aufeinander zugingen, wie sie den Schmuck abnahm, ihren Ballerina-Top über den Kopf zog. Sie preßte sich an ihn, während er sie umarmte, ihre Shorts aufknöpfte, sie langsam über ihre schmalen Schenkel streifte. Das konnte ich mir alles vorstellen, aber gleichzeitig sah ich etwas anderes: das dumpfe Elend in ihrem Gesicht, die Härte in den Mundwinkeln, das Zucken ihrer empfindlichen Lider.
    Meine Kehle wurde eng, ich schluckte, wandte die Augen ab. Einige Atemzüge lang stand das Mädchen reglos da; unvermittelt knickte sie zusammen, die Hände ausgestreckt. Bevor ich etwas sagen konnte, saß sie zusammengekauert auf dem Futon wie ein verstörtes Kind, die Beine hochgezogen, das Gesicht in den Armen versteckt. Genauso hatte ich in Tokio gesessen, damals auf dem Parkplatz, als Ken mich nach unserer ersten Nacht verließ und ich vor Liebe und Schmerz fast umkam. Etwas brach in mir auf wie eine verkrustete Wunde, aus der plötzlich warmes Blut fließt. Fast ohne mir bewußt zu sein, was ich eigentlich tat, kauerte ich mich neben Mitsue nieder. Sie fuhr heftig zusammen, sah mich bestürzt an, während ich ihre Schultern umfaßte.
    »Ich weiß, was du empfindest. Glaubst du, ich hätte das nicht auch gefühlt?«
    Ich biß mir auf die Lippen, hielt inne. Es stimmt nicht, was ich sage, dachte ich, da ist ja ein Widerspruch. Ich weiß nichts von der wahren Natur der Verzweiflung, die sie heimsucht und ihre Kindlichkeit sichtbar macht. Es muß etwas sehr Grausames sein. Sie hatte den Rücken der Hand, die ihre Ohrclips hielt, an die Zähne gepreßt, und ihre kleinen Brüste bewegten sich unter dem engen Trikot. Sie sagte kein Wort, ihr Gesicht war dunkelrot, und ihr Atem ging stockend. Ich saß dicht neben ihr, ihr weiches Haar neben meinem Mund, unter meinem Arm ihre zarten Schultern fühlend.
    »Mitsue, hör zu! Ich möchte nicht, daß du traurig bist. Solche Dinge kommen 483
    im Leben manchmal vor. Nur wenn du sie zum ersten Mal fühlst, erschrickst du.
    Später dann tut es weniger weh…«
    Sie wandte mir ihre verstörten Augen zu. Warum lügst du ihr etwas vor, Julie?
    Du glaubst es ja selbst nicht. Der Schmerz ist derselbe, ob man jung oder alt ist, und manchmal erreicht er das Herz, und dann stirbst du daran. Aber was du sagst, ist nicht wichtig. Du willst sie ja nur wissen lassen, daß dir ihr Schmerz nicht unzugänglich ist. Mehr kannst du für sie nicht tun. Ist sie nur gekommen, damit du ihr das sagst? Sei doch ehrlich zu dir selbst, Julie: Du hast Angst, ihretwegen.
    Sie wandte sich mir zu. Ihr Kinn zitterte und ihr Mund war leicht geöffnet. Die langen Wimpern bedeckten ein Stück der Pupillen, die dunkel und matt unter den Lidern glänzten. Plötzlich schloß sie die Augen, neigte den Kopf an meine Brust.
    Und dann begann sie zu weinen. Stumm zog ich sie an mich, drückte ihren Kopf an meine Schulter. An ihrem unbeherrschten Weinen fühlte ich, wie jung und verzweifelt sie war. Sie war nicht der Ohrclips wegen hier, natürlich nicht. Sie wollte mich sehen. Ich verstand sie, ich

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