Silbermuschel
verstand sie nur zu gut. Wenn ich darüber erst mal zu grübeln anfinge, daß ich die Liebe, alle Schönheit und Zärtlichkeit, die ich durch Ken erfuhr, aufgeben müßte, nur weil eine andere da war – ja, dann würde ich genauso verzweifeln. Oder noch mehr. Nicht auszudenken. Sie machte sich keinen Begriff, wie ihr Schmerz mich traf. Wie sollte sie auch? Sie war so jung, daß ihr noch viele Dinge verborgen waren. Das Leben hatte ihr noch nicht bestätigt, was sie vielleicht im voraus wußte. Diese Dinge, die Ken ihr schonend, mitfühlend beigebracht hatte, diese Dinge waren für sie nicht faßbar gewesen.
Möglicherweise hatte sie nicht einmal geweint. Doch jetzt, in diesem Raum, auf diesem Bett, das sie mit ihm geteilt hatte, nahm der Schmerz in ihr eine erkennbare Form an. Nun weinte sie sich fast das Herz aus dem Leib. Sie war ganz aufgelöst und glühte, und ich hielt sie und streichelte sie. Ihr schimmerndes Haar war elastisch und weich, die junge Frau hatte etwas Biegsames an sich, eine straffe, geschmeidige Glätte. Ich stellte mir vor, wie Ken sie liebkoste mit seinen zärtlichen Händen, mit seinem Körper, der jede Bewegung, jedes Schaudern dieses anderen Körpers mitempfand. Ihr Brüste fühlten sich wie zwei warme Vögel an.
Mir war, als bedürfe es nur einer Berührung, eines Atemhauchs, um sie aus ihrem Schlaf zu erwecken. Ich konnte dieser Versuchung nicht widerstehen; ganz behutsam fuhr ich mit der Hand über die Spitze, die so zart und so bezaubernd geformt war. Ich erschrak fast über meine eigene Bewegung, doch zu meiner Verwunderung schien sie Mitsue zu beruhigen. Ihr Schluchzen ließ etwas nach. Sie drückte sich enger an mich, und bald wiegten wir uns beide vor und zurück.
Allmählich fühlten sich ihr Gesicht und ihr Körper etwas kühler an. Ihre Haut duftete nach Seewind, mit einem sehr zarten Hauch von Lavendelwasser und Seife.
Es war für mich ein seltsam sinnlicher Genuß, diese Haut zu streicheln, die auch Ken gestreichelt hatte, es schuf irgendwie eine neue Verbindung zwischen ihm und mir. Nach einer Weile ließ ich Mitsue sachte los, um ein Taschentuch zu holen.
484
Dann zog ich sie behutsam auf den Futon herunter, wischte ihr das nasse Gesicht ab. Sie nahm mir das Taschentuch aus der Hand, putzte sich die Nase, pustend und schnupfend wie ein Kind. Auf einmal begann sie zu sprechen, als ob sie endlich dem Bedürfnis nachgab, sich einem Menschen anzuvertrauen, und sie tat es stockend und schonungslos, in einer Mischung aus Englisch und Japanisch, wobei sie das Taschentuch zwischen ihren Finger zerknüllte.
»… Mein Vater sagte, Mitsue, you silly girl, schlag ihn dir aus dem Kopf. Ken Miura, der ist nichts für dich. Schon zu alt, zu kompliziert. Vergiß ihn, such dir einen Jungen in deinem Alter. Ken hat selbst gesagt, er sei zu alt für mich. Aber this is not really true. Ich will keine Jungen ansehen und mich mit ihnen treffen, die haben nichts anderes als Disco und Baseball im Kopf! Ken, he is not like other people. Ich wollte schon lange bei ihm wohnen. Er sagte zu mir, du kannst kommen, wann du willst, aber es ist besser, du lebst bei deinen Eltern. Ich war mit ihm in den Vereinigten Staaten, in Kanada und in Singapur, überall. Und ich sehnte mich so entsetzlich danach, wieder mit ihm zu verreisen. Aber dann ging er nach Tokio, ich hatte ein Examen und konnte nicht mit ihm fahren. Wenn ich dabei gewesen wäre, dann hätte er dich niemals getroffen. Aber so kam alles ganz anders. Ich konnte es fast nicht glauben, als er mich aus Niigata anrief und sagte, er habe sich in eine Gaijin verliebt. Ich habe die ganze Nacht nur geheult.«
Sie weinte jetzt auch wieder, schluchzte und keuchte. Ich strich ihr das verstrubbelte Haar aus der Stirn. Sie ließ es gewähren, überließ sich jeder Liebkosung. Ich hatte solches Mitleid mit ihr. Sie empfand jetzt nur noch ihre Verlassenheit.
»Als er das letzte Mal kam und meine Sachen brachte… da sagte ich ihm, er solle mich in die Arme nehmen. Ich dachte, wenn er mich erst mal küßt, dann wird er auch mit mir schlafen… und dann… oh, ich hätte alles getan, damit er bei mir geblieben wäre. Aber er berührte mich kein einziges Mal. Er sagte, daß es wirklich zu Ende sei und daß wir Freunde bleiben sollten, I don’t remember, what he said, I didn’t listen at all. Ich konnte nicht mehr schlafen und nicht arbeiten in der Schule und auch nicht weiterleben wie bisher. You understand, ich wollte dich sehen, weil ich gehofft hatte,
Weitere Kostenlose Bücher