Silbermuschel
Meer. Und dann hörten wir gar nichts mehr.
Weil Ken wollte, daß ich das Fest von Anfang an miterlebte, ging er mit mir am frühen Morgen zum Schrein, wo die Taimatsu, die Kultfackeln für das Brandopfer, gebaut wurden. Der Bauprozeß hieß Taimatsuyni – Fackelbinden – und bestand, wie Ken sagte, seit Menschengedenken. Als wir uns auf den Weg machten, schwebte noch dämmriger Dunst über der Bucht, verdichtete sich im Nordwesten zu dunklen Wolken. Wir gingen an der Segelwerkstatt und der Fischereigenossenschaft vorbei, die einen neuen Anstrich in Kalkfarbe erhalten hatte. Dann wanderten wir an der Mole entlang, traten durch die roten Pfosten des Torii in den Eichenwald. Hand in Hand gingen wir weiter, die Stufen empor. Die Bäume standen schattenhaft im Nebel. Der Hain war nicht still, sondern von Stimmen, Klopfen und schleifenden Geräuschen erfüllt. Bald kam leichter Wind auf; die nach Harz und Seetang riechende Luft wurde immer klarer.
Unter dem Laubdach sickerte das klare Wasser der heiligen Quelle in einen steinernen Behälter und rieselte über die Ränder, wie eine lebendige Glasur. Wir tauchten die Schöpflöffel in das Wasser, gossen es über unsere Hände. Nach und nach durchdrang ein Flimmern die Nebeldecke, verwandelte die Schleier und Dämpfe in Tröpfchen von Lichtstaub. Alles glänzte und funkelte, und das vielstimmige Gezwitscher und Trillern der Vögel klang von überall her. Im Unterholz gingen Hähne umher, wunderschöne, schillernde Gestalten mit langem, über den Boden schleifendem Gefieder.
»In den Gärten traditioneller Schreine werden stets die heiligen Hähne gehalten«, sagte Ken. »Als Schützlinge der Sonnengöttin verkünden sie den neuen Tag, das Licht nach der Dunkelheit.«
Augenzwinkernd setzte er hinzu: »Dazu kommt, daß unsere Vorfahren unzüchtige Handlungen mit ihnen trieben!«
Als wir die Lichtung erreichten, wehte der Wind die letzten Nebelschleier hoch über die Baumkronen. Die Sonne glitt wie eine Feuerkugel hinter den Eichen hervor. Im Morgenlicht sah ich eine Anzahl Männer, in kleinen Kreisen damit beschäftigt, zwei riesige Strohgewinde zurechtzuschneiden, zu knüpfen und zu befestigen. Die meisten hatten Windjacken und Jeans an; manche trugen die traditionelle japanische Arbeitskleidung: Pluderhosen mit Gamaschen und Fußstutzen, Fausthandschuhen ähnlich, mit einer Einbuchtung für den großen Zeh.
Sie kauerten am Boden wie spielende Kinder, nickten uns freundlich zu, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Erst auf den zweiten Blick fiel mir auf, daß es sich zumeist um ältere Männer handelte. Ihre Gesichter glänzten vor Schweiß. Einige arbeiteten halb nackt. Ihre Oberkörper waren sehnig und gelenkig. Die Kälte 490
schien ihnen nichts auszumachen.
»Das sind die Alten«, erklärte mir Ken. »Nach altem Hausrecht vertreten sie Haus, Familie, Ahnenlinie und Besitz. In den dörflichen Gemeinschaften spielen sie eine bedeutende Rolle. Die Organisation des Festes liegt in ihren Händen.
Solche Bräuche sind eng mit dem Dorfleben verbunden, stützen sich auf überlieferte Regeln, die genau beachtet werden. Sie unterliegen nur Änderungen, wenn äußere Einflüsse es unbedingt erfordern. Diese Fackeln sind Yorishiros –
Göttersitze – während der ganzen Dauer des Festes.«
Es waren zwei Kultfackeln, die hier vorbereitet wurden; beide Gerüste wurden mit trockenen Rapspflanzen ausgefüllt und außen ringsherum mit einer Schicht des gleichen Materials umgeben. Die Männer zogen diese Rapspflanzen mit dicken Stricken fest, so daß sie wie ein Zylinder zusammengepreßt wurden. Die Umrißlinien waren leicht gewunden, und ich staunte über die Präzision der Arbeit.
Zwei Männer waren dabei, in eine dieser Fackeln einen großen Stab aus grünem Bambus zu stecken, an dem weiße Papierstreifen hingen, in Zickzacklinie geschnitten. Ken wies darauf.
»Das Gohei-Zeichen symbolisiert die Heiligkeit.«
Die erste Kultfackel war bereits aufgestellt. Einige Männer schälten große Schilfhalme, die in der Art traditioneller Matten an drei Stellen verknotet wurden.
Der fertige Umhang aus grünen Halmen wurde um den stehenden Zylinder gestellt und mit zwölf gleichmäßigen Bindungen in vertikaler Reihe befestigt. Alle Bindungen wurden überkreuzt und verknotet. Dabei hörten die Männer nicht auf, untereinander zu schwatzen und zu lachen. Sie vollzogen die komplizierten Gesten wie im Traum; ihre knorrigen Hände schienen von eigenem Willen erfüllt und den
Weitere Kostenlose Bücher