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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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ging mir durch den ganzen Körper. Kimikos Gesicht war ausdruckslos, doch die Stellung ihres Kopfes war wachsam wie bei einem Vogel. Ich sah ihre kleinen, runden Ohren und das dünne Faltennetz, das ihr Gesicht überzog wie die Maserung ein Stück braunes Holz. Nun sprach sie, heiser und stockend. Ihre Lippen bewegten sich sehr rasch. Ich warf einen Seitenblick auf Ken. Er lauschte, was sie sagte, die Augen auf die Frau gerichtet. Als sie endlich meine Hände frei gab und schwieg, grub er leicht die Zähne in die Unterlippe. Dann sprach er, zu mir gewandt:
    »Sie sagt, es sei die Zeit, in der die Füchse den Sonnenaufgang begrüßen. Sie setzen sich auf die Hinterläufe und heben einen Vorderlauf der Sonne entgegen.
    Wenn sie das eine Weile gemacht haben, verwandeln sie sich in Menschen. Füchse tragen in sich einen gewaltigen Zauber, weil sie in Löchern leben und mit den Erdkräften verbunden sind. Und weil meine Vorfahren die Herren der Erzminen waren, würden mich die Füchse lieben.«
    Ken sprach in einer Art Selbstvergessenheit, als ob sich die Gedanken nur langsam in ihm formten. Sein Blick war wachsam, aber nicht beunruhigt. Er hegte 494
    keine Geheimnisse im Herzen. Die Bilder der Erinnerung mochten auf ihn einstürmen, sie waren für ihn nur wehende Schatten. Nachdenklich wartete er auf das, was die alte Frau noch zu sagen hatte.
    Kimiko drückte die Hand an ihren Kopf. Einige Atemzüge lang rieb sie sich die Stirn mit kreisenden Bewegungen; dann seufzte sie tief und lächelte. Sie hatte die buschigen Brauen, den schlauen Blick, das aufgeräumte Grinsen einer Bäuerin.
    Ihre Unbekümmertheit täuschte: Sie war eine Frau, die den Zauber der Erde kannte, die Sprache der Geister vernahm; eine Frau, der man zu gehorchen hatte.
    Ich merkte es an der Art, wie sie sprach, selbstbewußt und fast hochmütig. Ken jedoch war ihr auf vielen Wegen gefolgt. Nichts von dem, was sie von ihm forderte, konnte ihn verwirren.
    »Kimikosensei sagt, bald würden die Fackeln zum Kami oroshi – zum Herbeirufen der Götter – brennen. Doch bevor Sonne und Mond sich auf beiden Seiten des Himmels gegenüberstehen, würde sie dich vor ihrem Haus erwarten. Du sollst ohne Schnalle, Gürtel oder Band kommen. Keine einzige Schnur an deinen Kleidern darf verknotet sein, und auch die Kette sollst du ablegen. Der Weg sei nicht weit, und du könntest die Nacht bei ihr verbringen.«
    Er verstummte, die Brauen leicht zusammengezogen. Unsere Blicke hielten einander fest. Ich brach als erste das Schweigen.
    »Muß ich allein gehen?«
    »Ja. Kimikosensei sagt, ich müsse die O-Daiko schlagen. Und wenn die Fackeln brennen, mich im Geist mit dir treffen. Dann, glaubt sie, würde sich etwas ereignen.«
    Mein Blick fiel auf das Spinnennetz an der Holzwand. Im Sonnenschein war die Spinne erwacht. Sie tanzte ihren Faden mit ruckartigen, emsigen Bewegungen.
    Mein Magen verkrampfte sich. Ich fuhr mit der Hand über die Lippen.
    »Was denn, Ken?« flüsterte ich mit pochendem Herzen.
    Er richtete meine Frage an die alte Frau. Kimiko sprach geschwind und spöttisch. Er faßte meine Hand. Ich merkte, daß er keine Antwort erhalten und wohl auch keine erwartet hatte.
    »Sie kann nicht enthüllen, was noch verborgen ist.«
    Ich nickte. Er schloß die Finger um mein Handgelenk. Die Berührung gab mir Kraft. Wärme stieg in mir auf; ich atmete freier.
    »Muß ich wirklich tun, was sie sagt?« fragte ich.
    »Ich denke, ja.«
    Ich drückte seine Hand; er wandte sich an Kimiko und gab ihr meine Zustimmung. Sie ließ einen zufriedenen Brummton hören. Ihre Augen funkelten mich warm und wohlwollend an. Dann bückte sie sich und schulterte ein Holzgestell, auf dem ein Korb befestigt war. Wir traten hinter ihr ins Freie. Sie nickte uns zu, und wir verneigten uns. Ohne ein Wort drehte sie sich um, ging mit stapfenden Schritten den Pfad hinauf. Bald wurde sie von den grünen 495
    Baumschatten verschluckt. Als sie fort war, empfand ich plötzlich eine seltsame Schwäche. Die alte Frau schien so viele Dinge zu wissen, die uns persönlich betrafen. Dinge hinter den verschlossenen Türen und in den dunklen Winkeln unseres Denkens.
    »Ken, was will sie von mir?«
    Er merkte meine Verwirrung, drückte mich enger an sich.
    »Ich denke, sie will dir etwas beibringen. Etwas, das mit dem zusammenhängt, was du bist.«
    »Wie kommt es nur, daß sie so viel über uns weiß?«
    »Liebste, ich frage Kimiko nie danach, wie sie zu ihren Kenntnissen gelangt.
    Einst sagte sie mir, ich

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