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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Bewegungsablauf von selbst zu kennen. Längst gehörte das Knoten und Verbinden einem Bereich an, der sich den bewußten Gebärden entzog; er war zu einem Instinkt geworden, zu einem sakralen Tun. Und auch diese Alten waren sich alle gleich, verknüpft durch ein gemeinsames Band aus fernster Vergangenheit. Der Widerschein uralter Bräuche spiegelte sich auf ihren braungebrannten Gesichtern wie das Sonnenlicht auf poliertem Holz.
    Zwei Männer brachten einen armdicken Bambusstab; dieser wurde mit den vorstehenden Seilenden an die Knotenreihe geknüpft, wobei sämtliche Seilenden abermals gleichmäßig geschnitten und kunstvoll ausgedreht wurden. Schließlich sah die Säule wie eine gekrönte Gestalt aus, seltsam feierlich, erhaben.
    »Hast du bemerkt«, fragte Ken, »auch bei Kultfackeln gibt es zwei Geschlechter: die weibliche Figur erkennst du daran, daß die Oberteile der Schilfhalme ähnlich der früheren Haartracht der Frauen heruntergebogen und kreisrund geschnitten sind, während die männliche Darstellung eine Kerzenform aufweist.«
    »Ken, wann entstand dieser Brauch?«
    »Er begann, als wir zu denken begannen und uns ein Bild des Universums 491
    erschufen. Das Grundelement der Kultfackeln ist die Geometrie. Wir Menschen glauben, die Geometrie erfunden zu haben, aber das stimmt nicht; die Geometrie ist bereits in der Schöpfung vorhanden. Die Alten wissen noch darum, auch wenn sie keine Worte dafür haben. Es liegt in ihrem Blut.«
    Das Knistern des Schilfes, das Knirschen der Schritte auf dem Kies, die heiteren Stimmen der Männer schienen in einem weiten Raum widerzuhallen; es waren natürliche Geräusche, als ob in diesem Hain, im Frieden des Morgennebels, die Zeit rückwärts lief, hinabtauchte zu den ersten Anfängen des menschlichen Begreifens, zu der Quelle aller Religionen, zum Ursprung der Kunst. In dieser Lichtung vollzog sich etwas Großes.
    Ken lächelte mich an, als ob er meine Gedanken erraten hätte.
    »Ich fühle Ehrfurcht für die Altweisen dieser Insel, die einen solchen Schatz an Wissen über Jahrhunderte gehütet haben. Die Welt und ihre Turbulenzen zu sehen mag eine Zeitlang eine interessante Beschäftigung sein. Und sich von Äußerlichkeiten fesseln zu lassen kann jeder. Die rationale Bewältigung des Daseins, was ist das schon? Nichts als ein Mißverständnis des Lebens. Früher oder später muß man dafür bezahlen, und die Rechnung kommt immer zu einem ungünstigen Zeitpunkt, nicht wahr? Beide Welten – die Welt des Rationalen und die Welt der Wunder – liegen eng beieinander. Auf die Dauer habe ich gemerkt, welche gut für mich war.«
    »Wie schade«, warf ich ein, »daß diese phantastischen Figuren verbrannt werden sollen.«
    Er nickte.
    »Das dachte ich auch, als ich sie zum ersten Mal sah. Daß man solche Objekte herstellte, nur um sie zu zerstören, kam mir widersinnig vor. Der Mensch schafft Kunstwerke aus Holz oder Stein, weil er möchte, daß sie dauerhaft sind. Aber diese Kultmale sind frei im Raum stehende Symbole. Ihre Beständigkeit erfüllt sich im kollektiven Unbewußten, in den Träumen. Sie sind Gegenstände einer Erinnerung, in konkrete Form umgesetzt. Sie werden dem Feuer übergeben, verwandeln sich in Licht. Und am nächsten Tag erinnert die Asche an das, was gewesen ist, so wie ja auch der Mensch, wenn er stirbt, nur seine Asche zurückläßt. Sein Geist aber lebt weiter, solange die Sterne kreisen.«
    Er legte den Arm um mich und sah mich an, mit lächelnden Augen. Ein alter Mann, der abseits eine Zigarette rauchte, schlurfte uns krummbeinig in Holzsandalen entgegen. Er war klein von Statur und mager; doch seine Arme waren auffallend kräftig, mit Muskeln wie die eines Athleten. Ken stellte ihn mir als Odasan, den Vorsteher der Dorfgemeinschaft, vor. Odasan hatte ein verschmitztes Gesicht, dunkelbraun und wie gegerbt. Er sprach den kehligen Dialekt der Inselbewohner, wobei er fröhlich grinsend zwei Goldzähne zeigte. Ken blinzelte ihn vergnügt an, verbeugte sich in seiner höflichlockeren Art. Er fügte dem, was Odasan gesagt hatte, ein paar Sätze hinzu. Dieser nahm seine Zigarette 492
    aus dem Mund, saugte hörbar die Luft ein. Dann beugte er sich betont feierlich nach vorn, wobei er den Kopf lange unten ließ. Das Lachen wich nicht von Kens Gesicht.
    »Odasan sagt, für Himesaki sei es eine Ehre, daß wir an dem Frühlingsfest die Trommeln schlagen. Unsere Gruppe sei weltberühmt. Das ist natürlich glatte Schmeichelei, weil wir kein Geld dafür

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