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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Oberpriester hielt das Tischchen mit ausgebreiteten Armen vor sich, stellte es vor den Altarschrein und verneigte sich in unnachahmlich würdevoller Haltung. Ken sprach halblaut zu mir. Bei diesen Opfergaben, ließ er mich wissen, handle es sich um Meerestiere: Seeschlangen, auf geweihtem Tang getrocknet und als »Drachenschlangen« oder »Leuchtschlangen« verehrt, und Haliotis, auch Seeohr genannt, Symbol des urtümlichen Lebens.
    »Unsere Vorfahren sahen das Meer als Wiege der Menschheit und als Wohnsitz der Götter an. Alles, was das Meer ihnen schenkte, war heilig. Mythen und Legenden lehrten sie, welche Opfer den Göttern zukamen. Die Riten bildeten sich im Lauf der Zeit.«
    Ich nickte stumm. Ich fühlte mich hellwach, und doch rieb ich mir manchmal die Augen und glaubte zu träumen. Und wie im Traum wurden merkwürdige Dinge ganz selbstverständlich; Götter und Menschen feierten Hochzeit, Ozeane und Bergwälder vereinten sich, die Füchse beteten die Sonne an, und tausendjährige Wörter wurden lebendig.
    Die Flöte, für eine Weile verstummt, setzte plötzlich wieder ein. Im goldenen Schattenspiel erschienen vier junge Priesterinnen. Sie hielten die Stirn gesenkt, bewegten sich mit gemessenen Schritten. Ihre Gesichter waren gepudert, die Lippen kirschrot geschminkt und die Haare im Nacken mit einem Band aus Reisstroh gebunden. Über ihre purpurnen Hosenröcke trugen sie weiße Überwürfe, deren Ärmel über den Boden schleiften. In den Händen hielten sie Sakakibüschel und kleine Glöckchen. Zum Klang der Bambusflöte führten sie einen Reigen auf, ein zauberhaftes Filigran, in sich geschlossen, von allem Äußeren losgelöst. Sie tanzten nicht; sie schwebten, begleitet von dem Klingen der Glöckchen. Ihre Ärmel hoben und senkten sich wie Flügel. Sie trugen Tabis – weiße Füßlinge. Ihre Schritte, mit den Zehen nach innen gerichtet, hoben kaum die Falten ihrer roten Gewänder.
    Ken umarmte mich fester. Eng aneinandergedrückt, standen wir in der Dunkelheit. Ich schmiegte meinen Körper an den seinen, spürte das heiße Flackern des Verlangens in meinem Unterleib; ich merkte, wie auch er mich begehrte. Er drückte sein Gesicht in mein Haar; langsam bewegte ich meinen Kopf an seiner 504
    Brust. Seine Lippen fanden mein Ohr, dann meine Wange, dann meinen Mund.
    Wieder schwieg die Flöte. Roter Schein flammte auf: Eine weißgoldene Gestalt löste sich aus dem Schatten. Es war ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren.
    Über seinem bauschigen Hosenrock trug es einen schweren Überwurf aus Brokat, mit dem Kranichwappen bestickt. Das weißgeschminkte Kindergesicht leuchtete wie Seide. Sein blauschwarzes Haar fiel über die Ärmel seines Gewandes bis tief in den Rücken hinab. In der Hand hielt es eine Pechfackel, die stark rauchte. Mit zögernden Schritten trat das Mädchen an einen Holzstoß heran, der vor dem Heiligtum aufgeschichtet war. Es hob die Pechfackel, senkte sie dann gegen das Holz. Zuerst stieg ein dünner Rauchfaden auf, zog zur Seite ab, wurde dichter.
    Dann züngelten Flammen empor, zuckten und krochen über das Holz.
    »Unserer Überlieferung nach«, flüsterte Ken mir zu, »ist es die Frau, die das Feuer auf die Erde brachte, nachdem sie es von einem Gott empfangen hatte.«
    Die Flammen teilten sich, gewannen an Kraft, wehten höher; die Farbe vertiefte sich von gelb zu hellem Rot. Das Holz prasselte und knisterte. Rauch quoll wie blauer Nebel hervor, wirbelte umher. Bald war der Holzstoß von einem roten Lodern umgeben; ein unentwegtes Zittern bewegte den Schein, der sich höher und höher schwang, seinen Rauch und seine Funken zu den schwarzen Bäumen emportrug.
    Ein plötzliches Gedränge warf die Menge nach vorn. An die Anwesenden waren Fackeln verteilt worden. Männer und Frauen näherten sich dem Holzstoß, standen Schlange, um ihre Fackeln anzuzünden. Der milde Schein der Laternen verblaßte. Feurige Blüten versprühten zu Garben und Kränzen. Schemenhafte Gestalten, zu riesenhafter Größe emporwachsend, huschten über die Lichtung. Die Nacht war das Reich der tanzenden Schatten, eine verwunschene Zauberwelt unter dem Mond, der silbern über die Baumkronen wanderte. Die Menge, heiter lachend und lärmend, flutete um uns herum. Die Luft war diesig vom Rauch der Pechfackeln, erfüllt vom Prasseln und Zischen der brennenden Holzscheite, die noch feucht waren vom süßen Harz der Bäume. Im Gedränge preßte Ken mich kurz an sich.
    »Gleich bringen sie den Tragschrein aus dem

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