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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Andacht, in sich selbst vertieft, hingegeben an die Gegenwart der Gottheit in seinem Inneren. Die Menschen sprachen nur gedämpft; einzig das Knirschen der Schritte auf dem Kies, die dünnen Stimmen der Kleinkinder und dann und wann ein Schnupfen oder Husten brach die Stille, in der eine Flöte erklang: ein schwingender, sehr hoher, zarter Ton, steigend und fallend mit leisen Trillern. Es war der Gesang des Rohrschilfs und der Quellen, eine magische und natürliche Weise, den Stimmen der Vögel nachgeahmt und so alt wie die Menschheit.
    Die Tore des Heiligtums standen offen; das von Holzsäulen getragene Mittelgebäude, in goldenes Licht getaucht, schimmerte wie eine Riesenmuschel.
    Im Shintai – im »Heiligen Gegenstand« – war die Meeresgöttin erwacht. Der geflügelte Spiegel, von Feuer durchglüht, schien losgelöst vom Altar, schwebend 502
    in einer flackernden Aura. Es war irgendeine Form von Leben, das sich da zeigte; ein Leben, das eigentlich verborgen war, sich nicht berühren ließ, eine Helle, die plötzlich glänzte und atmete und pulsierte.
    Das Heiligtum war frisch gereinigt worden und festlich geschmückt. Die
    »Schnur der Läuterung« hatte neue Votivstreifen aus weißem Papier bekommen, die wie Girlanden im Luftzug schaukelten. Vor den Holztüren standen Sake-Fässer, mit Reisstrohgeflecht umwickelt. Sie dienten dem Trankopfer, dem heiligen Rausch, der Götter und Menschen vereinte. Blauweiße Stoffbahnen, mit einer roten Kordel zusammengerafft, rahmten den Altar ein. Sie waren mit dem Wappen der Dorfgemeinschaft bedruckt: zwei Kraniche, deren verschlungene Flügel einen Kreis bildeten. Vor dem Shintai waren große Reiskugeln, auserlesene Früchte und Gebäck in Messingschalen aufgeschichtet. Kerzen brannten in den kupfernen Ständern. Vor dem Altarschrein kniete der Priester, ein hochgewachsener, überschlanker Mann in weißem Gewand. Er trug eine schwarze Kopfbedeckung, hoch aufragend, mit einer weißen Kordel unter dem Kinn befestigt. Ich wußte von Ken, daß sie Eboshi – Vogelhut – hieß, ein uraltes Zeichen der Würde. Seine tiefe Stimme, vom Klang der Bambusflöte begleitet, wehte wie ein schwerer Summton über die Lichtung. Hob er die Hände, schimmerte Licht durch die aufschwebenden Flügelärmel. Andere Priester in Hosenröcken aus hellgrauer Seide und weißen Überwürfen knieten regungslos zwischen den Säulen.
    Die Mitglieder der Hausvorsteher, die die Kultfackeln tragen würden, warteten zu beiden Seiten des Heiligtums. Jüngere und ältere Männer, in kimonoartige Jacken und dunkelblaue Leggings gekleidet. Manche hatten nur kurze Hosen aus dünner Baumwolle oder einen Lendenschurz an. Ihre nackten Füße steckten in Strohsandalen, und das weiße Schweißtuch war fest um ihre Stirn geknotet.
    Wir standen unter den Pfosten des Vorbaus, wo wir im Gedränge Platz gefunden hatten. Ken hielt mich mit beiden Armen umfaßt und sprach leise an mein Ohr, um mir die Zeremonie zu erklären.
    »Der Kannushi – der Oberpriester – beschwört die Göttin mit einem Norito, einem Ritualgebet, das über tausend Jahre alt ist. Der volle Titel dieses Norito heißt: ›Gebet zur Großen Reinigung am letzten Tage des sechsten Mondes‹ und soll die Anwesenden von all ihren Sünden und Vergehen befreien.«
    »Kannst du mir die Worte übersetzen?«
    Sein Lächeln streifte meine Wange.
    »Das weiß ich nicht. Ritualgebete sind feierlich und kompliziert. Mal sehen, ob ich die richtigen Worte finde.«
    Ein paar Atemzüge lang blieb er still, bevor er leise sagte:
    »So wie der Atem der Windgottheit Shinato die achtfachen Wolken des Himmels auseinanderweht, so wie die Morgennebel und Abendnebel vom Morgenwind und Abendwind verweht werden, so wie ein großes Schiff, das im 503
    weiten Hafen liegt, seinen Bug frei macht, sein Heck frei macht und auf die hohe See hinaustreibt, so wie das Buschholz drüben von der geschmiedeten scharfen Sichel hinweggemäht wird – so werden die Sünden keine mehr sein.«
    Ich hatte den Wunsch, den Zauber dieser Worte festzuhalten, ihn in mir zu bewahren. Für eine Weile fühlte ich mich weit weg, hoch in die Lüfte getragen, bis zu den Wolken, bis zum Mond, auf den Flügeln dieses Gebets. Der Oberpriester verstummte fast gleichzeitig, und dieses Schweigen erschien mir noch tiefer, mit Dingen angefüllt, die nicht nur sichtbar vor mir standen, sondern mich von allen Seiten umschlossen.
    Nun brachte einer der Priester ein Tischchen, auf dem verschiedene Opfergaben lagen. Der

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