Silbermuschel
ein sauberes T-Shirt. Ken dankte und sagte, er würde es gelegentlich zurückbringen. Das schmutzige warf er weg. Als er sich umwandte, trafen sich unsere Blicke. Wortlos streckte er die Hand aus. Ich ergriff sie. Seine Finger waren ebenso kalt wie die des Verstorbenen.
Die folgende Stunde verbrachten wir auf der Polizeistation. Wir saßen auf Holzstühlen, während das Protokoll des Unfalls aufgenommen wurde. Der schuldige Fahrer mußte seinen Führerschein abgeben. Der Lieferwagen und das Motorrad wurden weggeschafft. Das Übliche. Die Personalien des Opfers waren schnell ermittelt. Es handelte sich um einen Amerikaner aus Boston. Er hatte ostasiatische Literatur studiert, wohnte in Yokohama und war für das Fest nach Sado gekommen. Ken erwähnte, daß er eine Freundin habe, die Janice hieße. Der Inspektor vom Dienst – ein mürrisch blickender Mann – fand ihre Anschrift auf einer Postkarte in der Brieftasche des Verstorbenen. Ken bat um ihre Adresse. Der Beamte zog die Stirn kraus.
»Warum?«
»Ich möchte ihr schreiben.«
Der Inspektor war sichtlich schlechter Laune. Da der Tote ein Ausländer war, mußte er das Konsulat in Niigata verständigen und rechnete mit Scherereien.
»Hat er etwas Besonderes über sie gesagt?«
Ken nickte geistesabwesend.
»Ja. Er sagte: Schade, daß Janice nicht da ist.«
Der Beamte hörte auf zu schreiben.
»Haben Sie eine Ahnung, was er damit meinte?«
Ken rieb sich die Augen.
»Sterbende sagen manchmal seltsame Dinge.«
»Honto, ne?« knurrte der Beamte und schrieb weiter.
Als man uns endlich gehen ließ, sank schon die Sonne. Rauchblaue Wellen schaukelten unter dem Himmel. Über die Küstenstraße brauste gleichmäßig der Verkehr. Alle Spuren des Unfalls waren beseitigt worden; nur noch vereinzelte Glassplitter funkelten auf dem Asphalt.
»Kaffee?« fragte Ken.
Wir hatten beide einen nötig. Auf der anderen Straßenseite war ein kleines Kaffeehaus. In den gläsernen Platten der Tischchen waren elektronische Space-Invader-Spiele eingelassen. Wir setzten uns, Schulter an Schulter. Ein junger Mann brachte ein Tablett mit einer kleinen Kanne und zwei Tassen. Ich zerriß die winzige Tüte, schüttete Zucker in Kens Kaffee, rührte um und reichte ihm die Tasse. Eine Weile schlürften wir stumm das heiße Getränk, bis es uns besser ging.
Schließlich brach Ken mit einem Seufzer das Schweigen.
»Sterbende sind froh, wenn sie nicht einsam sind.«
501
Ich verschränkte fröstelnd die Arme.
»Glaubst du, daß er Schmerzen hatte?«
»Wohl kaum. Bei solchen Verletzungen sendet das Gehirn Endomorphine, die den Organismus natürlich betäuben. Es ist vor allem die Seele, die leidet.«
»Alles geschah so schnell«, flüsterte ich. »Von einer Sekunde zur anderen…«
»Der Tod kann uns jeden Augenblick über den Weg laufen. Es ist zuviel von uns verlangt, daß wir immer bereit sind.«
»Denkst du oft daran?«
Er hatte seine Erschütterung überwunden, war wieder ganz er selbst.
»Heute nicht mehr. Die Angst vor dem Tod, das ist ganz natürlich, ne? Es gab eine Zeit, als mich dieser Gedanke von morgens bis abends beschäftigte. Und erst als ich begriff, daß der Tod im Herzen des Lebens wohnt, hörte meine Angst auf.
Und jetzt habe ich Besseres zu tun.«
Er lächelte und strich über mein Haar.
»Zum Beispiel, dich zu lieben.«
Als wir aus dem Kaffeehaus traten, flammte uns die Abendsonne entgegen.
Wolken, purpurn und grün, wehten über den Himmel, und das Meer schillerte wie eine goldene Kugel. Angesichts dieser Schönheit kehrten meine Gedanken zu dem Toten zurück; mein Herz wurde schwer. Doch als wir vor dem Motorrad standen, legte Ken mir beide Hände auf die Schultern. Er blickte mich an, gelassen.
»Beruhige dich, Liebes. Es war sein Schicksal. Unsere Stunde wird auch kommen, irgendwann. Es ist nicht gut, wenn wir traurig dort hingehen, wo die Götter sich freuen. Nichts trennt uns von den Toten, weder Glück noch Leid. Schau richtig hin, und du siehst überall ihre Schatten.«
Der Mond funkelte am Himmel wie ein klarer Opal. Unter den Bäumen zuckten Fledermäuse. Die Dunkelheit war durch unzählige gelbe Laternen erhellt, an Fäden über die Lichtung gespannt; sie leuchteten weich und geheimnisvoll, als schwebten sie in der Luft, und Nachtfalter umkreisten sie wie Fünkchen. Das goldene Licht schimmerte auf den Gesichtern der Menschen, die sich zu Tausenden vor dem Heiligtum drängten. Es war merkwürdig still; jeder schien für sich allein in seiner
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