Silbermuschel
Märchen und Legenden sie fesseln.
In dieser Nacht lag ich lange wach; die Ruhe, die mein Körper gefunden hatte, die wohltuende Wärme nach der kühlen Nachtluft, reichten nicht aus, um mir den Schlaf zu schenken. Ich lag neben Ken, in seinen Armen geborgen; ich hörte seine Atemzüge, nicht tief und regelmäßig, sondern flach und hastig. Er schlief unruhig; auch sein Herz klopfte schneller als sonst. Der ganze Rhythmus seines Körpers hatte sich verändert, als fühle er mit mir und teile meine Unruhe. Denn er spürte die Gedanken meines Herzens; und vielleicht sah er auch in seinen Träumen die kreisenden Bilder in meinem Kopf. Sie kamen und gingen, glitten übereinander, verschmolzen wie Farbflecken. Ich sah das Heiligtum im sanften Laternenlicht, den Umzug in all seiner Farbenpracht und die Kultfackeln, einsame Wächter der Hütte, in der die Göttin den morgigen Tag erwartete. Aber ich sah auch Dinge, die ich nicht sehen wollte: den Sterbenden in Kens Armen, das blutverklebte Haar, die zersprungene Schläfe. Und dann Kens Hände, rot und klebrig. Und mit diesem Bild tauchten Visionen auf, die weiter zurücklagen. Sie spülten aus dem Nebel des Gedächtnisses nach oben; ich war ihnen wehrlos ausgeliefert wie früher. Mir war, als ob ich von jetzt ab wieder rückwärts ginge, zurück zu den Schemen und 508
Schatten meiner Kindheit, und dann noch tiefer, in ein Zentrum, so beklemmend schmerzhaft und so entsetzlich vertraut, daß ich leise aufstöhnte. Da bewegte sich Ken, atmete schwer und erschauerte. In der Stille des anbrechenden Tages hörte ich ihn ein Wort sagen, ein Wort in japanischer Sprache:
»Feuer!«
Wie versteinert lag ich an Kens Seite, fühlte einen tiefen, bohrenden Schmerz von mir Besitz ergreifen. Und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß es Kimiko war, die unsere Unruhe in dieser Nacht bewirkt hatte. Etwas Namenloses war in mir, etwas, das mich innerlich verkrampfte und schüttelte. Es war – vielleicht – das Bewußtsein, daß Ken und ich nun da waren, wo selten vor uns Menschen gewesen waren. Fast war es, als ob wir im Begriff standen, ein Naturgesetz zu brechen, etwas gemeinsam zu tun, was noch keiner getan hatte.
Aber das war natürlich nicht möglich, ich bildete es mir nur ein, weil ich erschöpft war.
Du jedoch träumst von Riesenfackeln, die auflodern zu Ehren der Gottheit und Himmel und Erde verbinden. Feuer, hast du gesagt. Aus der Asche wird neues Leben geboren. Wir geben uns nicht zufrieden mit der seelischen Sicherheit, der körperlichen Erfüllung. Wir fordern mehr: eine völlige Heimsuchung.
Aus den wirren Umrissen in meinem Kopf entstand ein neues Bild: der Umriß eines Baumes, vom Mondlicht übergossen. Ich wußte, ohne nachzudenken, woher ich diesen Baum kannte und was ich mit ihm tun konnte, wenn ich sein Bild noch deutlicher formte. Ich war nicht mehr das scheue Kind von einst; vieles hatte ich dazugelernt. Denn die Götter ließen sich nicht nur auf Bäumen nieder. Der ganze Mensch mochte zum Gefäß der Gottheit werden und willig, in heiliger Verzückung die Grenzen zu durchbrechen. Dann wurde sein Halbschlaf zum wachen Bewußtsein, es gab weder Furcht noch Zweifel. Die unsichtbare Form aller Dinge.
Vielleicht gab es eine Möglichkeit, diese Dinge sichtbar zu machen. Ja.
Und dann lag ich still. Trägheit überfiel mich in Wellen, mein Körper beruhigte sich mit langsamem Pulsschlag. Ich schlief ein; nicht sehr lange. Arme umfaßten mich, ein warmer Hauch strich über mein Gesicht. Ich schlug die Augen auf; ich sah Kens Lächeln im frühen Morgenlicht, atmete den Geruch seiner Haut ein und hörte die Wellen rauschen. Es war der letzte Tag des sechsten Mondes; das Rad der Zeit hatte begonnen, sich rückwärts zu drehen.
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35. KAPITEL
K en war aufgestanden, als ich noch schlief, hatte das Wasser im Badezimmer geheizt. Das Fest sollte mit reinem Körper und reinem Geist begangen werden. Im Nebel des heißen Dampfes befreiten wir unsere Glieder von Müdigkeit und Schwere. Ken löste sein Haar, um es zu waschen. Ich lächelte ihn an.
»Warte, laß mich es tun.«
Hinter der Tür aus opakem Glas kauerte ich mich neben ihn auf die warmen Fliesen, regulierte die Brause, tröpfelte Shampoo in meine Handfläche. Ich ließ das warme Wasser über seinen Kopf rieseln, wusch sein Haar und massierte mit sanften, kreisenden Bewegungen seine Kopfhaut. Meine Finger wanderten über die Schläfen, den Haaransatz, den Hals. Ich staunte über die Zartheit seiner
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