Silbermuschel
Zuvorkommenheit. Fröhliche Stimmen, glückliches Gelächter erfüllten den Hain. Götter und Geister waren diesen Menschen vertraut; sie lebten in ihrer Nähe.
Am Strand war eine Pfahlhütte aus Schilf und Strohmatten errichtet worden, in der die Gottheit für eine Nacht wohnen würde. Auch vor dieser Hütte standen Opfergaben: rote und weiße Reiskugeln, Mandarinen, kleine und größere Sakefässer, mit Strohgeflecht umwickelt. Gegenüber der Hütte befand sich eine Aluminiumtribüne für die Dorfobrigkeit, die Familien der Vorsteher und die Ehrengäste. Dicht gedrängt waren Zuschauer bereits dort versammelt. Ein erregtes Murmeln kündigte den Tragschrein an, der nun auf den Schultern seiner Träger unter den Pfosten des Torii hindurchschwankte. Eine Bewegung ging durch die Menge: Vor dem Festzug tat sich eine Gasse auf. Da erblickte ich Ken neben zwei seiner Musiker, beide als Dämonen verkleidet. Er selbst hatte die Tragtrommel geschultert. Ich hatte schon oft gesehen, wie er übte, doch hier war es anders.
Mühelos wirbelten seine Hände auf das Trommelfell. Mit einer Taktsicherheit, einer tänzerischen Grazie ohnegleichen folgte sein Körper dem Rhythmus.
Während er die Trommel schlug, blickte er um sich, heiter und glücklich, mit schimmernden Augen und einem Lächeln auf den Lippen. Ein erwachsener Mann, der Kinder ein heiliges Spiel lehrt, seinen Sinn und seine Schönheit wahrnimmt und sie mit seinem ganzen Wesen empfindet. Das Einssein mit den Göttern hatte ihm Frieden gebracht; nun war er stark genug, diesen Frieden auch anderen zu schenken.
Inzwischen hatten die Kultfackeln ihren Bestimmungsort erreicht, wo die Träger sie abluden. Lachend und naß vor Schweiß reckten diese ihre steifgewordenen Schultern, massierten sich gegenseitig den Rücken, ließen sich zu Boden sinken und zündeten Zigaretten an. Plötzlich schwiegen Muschelhörner und Trommeln. In der Stille brandete die Dünung; Gischt schoß bleich und glitzernd an den Klippen hoch. Geleitet von der kindlichen Priesterin, wurde der Tragschrein die Stufen emporgehoben und auf der Hüttenplattform abgesetzt. Ein Priester brachte einen Bambusbehälter, mit Seewasser gefüllt. Mit einem Schöpflöffel besprengte der Oberpriester den Tragschrein. Er führte noch weitere Kulthandlungen aus, brachte Opfer und sprach Gebete. Die weiten Gewänder der Priester, bläulich schimmernd im Mondlicht, bauschten sich wie Segeltücher. Die Fackeln neigten sich mit dem Wind zur Seite, zogen eine Funkenschlange nach sich, die sich sprühend in der Nacht verlor.
507
Eine Pause trat ein. Man brachte Reiswein; alle tranken. Ich sah, wie Ken sich mit dem Arm über das feuchte Gesicht strich, mit den Männern scherzte und lachte. Als er seine Schale leerte, schweiften seine Augen suchend umher.
Lächelnd trat ich einen Schritt vor. Wir sahen uns an, und selbst in dieser stummen Begegnung waren wir zwei, die sich als eins erkannten.
Dann gab der Oberpriester ein Zeichen. Ken schulterte die Trommel: Seine Finger gaben jetzt einen dumpfen, regelmäßigen Takt an. Die Musiker fielen im gleichen Rhythmus ein, während sich die Fackelträger an die Arbeit machten. Nun galt es, beide Kultmale in den Boden zu rammen und zu befestigen. Die Männer stießen zuerst zwei Bambusgestelle fest in den Sand. Dann hoben sie unter großer Anstrengung den unteren Teil der Kultfackeln und stützten sie darauf. An jeder Fackel wurden vier armdicke Hanfseile befestigt. Dann teilte sich jede Gruppe in zwei: Die eine Gruppe zog an den Seilen, während die andere die Kultfackeln an der gegenüberliegenden Seite hochstemmten. Ken nahm einen Schluck Reiswein, bevor er den Rhythmus wechselte: Der schnelle, mitreißende Klang paßte sich der ziehenden Bewegungen an. Die Muskeln der Träger spannten sich, sie keuchten und zerrten aus Leibeskräften, während die Trommeln dröhnten und die Zuschauer sie mit rhythmischen Zurufen und Händeklatschen anspornten. Alles lachte und schrie, die Kinder kreischten vor Vergnügen, als die Taue knarrten und beide Kultfackeln sich aufrichteten. Nun standen sie unter dem Mond, noch leicht schwankend, ihre wuchtigen Schatten in den Sand werfend. Die Große Mutter und ihr Gefährte, geheimnisvoll und erhaben wie urzeitliche Riesen. Sie kannten die Sprache der Götter, erzählten von fernen Zeiten und alten Geheimnissen; und die Menschen, die sie geschaffen hatten, sahen still und begeistert zu ihnen empor, wie Kinder zu alten Menschen aufschauen, deren
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