Silbernes Band (German Edition)
den Schlaf und hoffte, ihr bald folgen zu können. Die Unrast plagte ihn. Er machte kaum ein Auge zu.
Am nächsten Morgen gingen sie beide wie gewohnt zur Arbeit. Heiðar musste die Beerdigung organisieren und eine Todesanzeige bei der Zeitung aufgeben. Er führte viele Telefonate, gab dazwischen Unterricht. Kristín hatte zum Glück über ihre Wünsche gesprochen, damit nahm sie ihm einige Entscheidungen ab. Fionn bot seine Hilfe an, damit ihr letzter Wunsch in Erfüllung ging. Kristín wollte gerne auf dem alten Friedhof an der Suðurgata begraben sein. Heutzutage fanden dort nur noch selten Begräbnisse statt, aber Fionns Überzeugungskraft machte es möglich.
Die Beerdigung sollte am kommenden Montag stattfinden. Heiðar hatte ursprünglich geplant, am Wochenende nach Norwegen zu fliegen, um zu jagen. Doch das konnte er jetzt nicht tun, nicht bevor er seine Mutter beerdigt hatte. Der Blutdurst quälte ihn jedoch heftig, und er befürchtete, er könnte die Beherrschung verlieren. Eine Jagd hier in Island kam für ihn nicht in Frage. Der Gedanke, so kurz nach Kristíns Tod selbst zu töten, widerte ihn an. Spenderblut wollte er ebenfalIs nicht trinken. In seiner Not besann er sich auf Schweineblut, das er in einer Metzgerei bekam. Damit musste er bis nach der Beerdigung über die Runden kommen.
„Weiss dein Vater, dass Kristín gestorben ist?“, fragte Rúna behutsam, als sie abends gemeinsam im Bett lagen ohne Schlaf zu finden. Er schloss die Augen und rückte etwas von ihr ab, bevor er antwortete: „Ja, er weiss es.“ – „Wird er zur Beerdigung kommen?“ – „Vielleicht... Ich... Rúna, ich kann nicht über ihn sprechen – nicht jetzt...“ – „In Ordnung. Ich wollte dir nicht wehtun. Bitte verzeih mir.“ Sie suchte seinen Mund und küsste ihn zärtlich. Er löste sich von ihren Lippen und küsste stattdessen die Mulde an ihrem Ohr, murmelte dann ein paar leise Worte. Rúna schloss die Augen und schlief ein.
Er stand auf und ging in die Küche, holte den blickdichten Plastikbehälter mit dem Schweineblut aus dem Kühlschrank und stürzte den Inhalt gierig hinunter. Das Blut allein genügte nicht. Es löschte den Durst, aber nicht seine Unrast. Er musste jagen.
Am Vorabend der Beerdigung sassen sie noch lange aneinandergeschmiegt auf dem Sofa und lasen einander vor. Er liess sich von den Worten in der Geschichte entführen, genoss dieses Stück Normalität und die Geborgenheit, die den Durst und die Unrast beinahe vergessen liess. Gegen Mitternacht legten sie sich schlafen. Rúna schmiegte sich an ihn, wollte ihn küssen und streicheln, doch ihm war das alles zu viel. Rasch murmelte er ihr die unverständlichen Worte ins Ohr und entliess sie in den Schlaf, rückte von ihr ab und starrte mit verschwommenem Blick an die Zimmerdecke.
Heiðar musste irgendwann eingeschlafen sein. Er träumte. Im Traum befand er sich in einem dunklen Wald. Einem richtigen Wald, mit hochgewachsenen Bäumen, wie es sie in Island nicht gibt. Langsam ging er auf eine Lichtung zu, auf der die Sonnenstrahlen tanzten. Rúna stand lächelnd inmitten der hüpfenden Lichtflecken. Fionn verbarg sich am Rande der Lichtung, im Schatten der Bäume. Plötzlich trat Kristín aus dem Licht hervor. Strahlend schön, so wie vor ihrer Krankheit. Sie hob die Hand und strich sachte über Rúnas Wange. Heiðar beschlich eine schreckliche Ahnung, er begann zu laufen.
Seine Mutter fasste nach Rúnas Hand. „Komm mit mir, Rúna. Ich bringe dich an diesen besonderen Ort.“ – „Nein! Du darfst nicht mitgehen Rúna!“ Sie schien ihn gar nicht zu bemerken, ihr Blick war fest auf Kristíns strahlendes Gesicht gerichtet. Heiðar verstand: Rúna war tot, Kristín wollte sie mitnehmen. Auf keinen Fall konnte er das zulassen! Verzweifelt versuchte er noch etwas schneller zu laufen. Seine Lungen brannten, doch die Distanz zu Kristín und Rúna wurde immer grösser. Wieso konnte Fionn ihm nicht helfen? Sein Vater war im Schatten des Waldes verschwunden, er durfte nicht zu Kristín und Rúna ins Licht treten.
Endlich gelang es Heiðar, den Abstand zu verringern. Mit letzter Kraft erreichte er die beiden und streckte seine Hände nach Rúna aus, um sie festzuhalten, „Rúna! Bleib bei mir!“, klammerte sich verzweifelt an sie und versuchte, sie mit aller Macht zurückzuhalten. Kristín lächelte sanft und bat ihn, Rúna loszulassen.
„Lass mich los! Du tust mir weh!“ Ihre Stimme war voller Schmerz. Er
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