Silbernes Band (German Edition)
zu erscheinen. Der Gedanke an Gelächter und Getratsche war ihm unerträglich. Er war erleichtert, dass Eirík und Birta ihn vertreten würden. Eirík sah es als letzten Gefallen an seine verstorbene Schwester. In den vergangenen vierunddreissig Jahren hatten sie sich nur zweimal gesehen, zu den Begräbnissen von Mutter und Vater. Kristín hatte nach ihrem Weggang ins Ausland den Kontakt komplett abgebrochen. Auch nach der Trennung von Heiðars Vater und der Geburt des Enkels war es nicht zur Versöhnung mit den Eltern gekommen.
Heiðar hatte Svanfríður längst bemerkt. Ihr Duft war eine seiner ersten Erinnerungen, ihre Hände die ersten, die ihn berührt hatten. Und sie hatte bereits vor seiner Geburt gewusst, dass er ein besonderes Kind war. Svanfríður war auch später noch regelmässig zu Besuch gekommen, war eine liebe Freundin und Vertraute von Kristín gewesen. Heiðar blickte in das freundliche runde Gesicht mit den vielen Lachfältchen um Mund und Augen. Ihr ehemals braunes Haar war jetzt grau, aber sie trug noch immer denselben praktischen Kurzhaarschnitt.
„Heiðar, mein Lieber. Es tut mir so leid um deinen Verlust. Ich werde Kristín sehr vermissen.“ In ihren Augen standen Tränen, als sie ihn fürsorglich umarmte. Heiðar schluckte tapfer. „Danke Svanfríður. Darf ich dir meine Freundin Rúna vorstellen?“, erwiderte er mit leiser, belegter Stimme. „Hallo Svanfríður.“ Rúna reichte der sympathischen kleinen Frau höflich die Hand. Svanfríður musterte sie freundlich und meinte mit einem feinen Lächeln: „Ich war Kristíns Hebamme. Ich durfte Heiðar auf die Welt helfen.“ Rúna nickte schüchtern und erwiderte ihr Lächeln.
„Du kannst mich jederzeit anrufen, falls ihr meine Hilfe braucht“, ergänzte Svanfríður bedeutungsvoll. Heiðar verstand und steckte die Karte ein, die sie ihm reichte. Sie umarmten einander zum Abschied. Svanfríður gab Rúna die Hand und ging dann eilig in Richtung Ausgang davon.
Als alle Trauergäste gegangen waren, blieben sie noch eine Weile am offenen Grab stehen. Ein blonder junger Mann trat zu ihnen, umarmte Heiðar liebevoll und klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Ich bin Fionn, Heiðars Cousin aus England“, wandte er sich schliesslich an Rúna. Sein Händedruck war fest und eiskalt, das Isländisch hatte einen starken englischen Akzent.
„Hallo Fionn.“ Rúna versuchte, den seltsamen Vornamen richtig auszusprechen. „Meine Mutter ist Isländerin, mein Vater Engländer, deshalb spreche ich die Sprache nur ungenügend“, erklärte er entschuldigend. Rúna ging davon aus, dass es sich um einen Verwandten von Heiðars Vater handelte, denn Kristín hatte ja nur einen Bruder gehabt. Für einen kurzen Moment blickte er sie direkt an. Fionn hatte exakt dieselben Augen wie Heiðar, auch der Schmerz darin war derselbe. Die ebenmässigen Gesichtszüge waren einander sehr ähnlich.
Heiðar schien sich nicht so recht wohl zu fühlen in Fionns Gesellschaft. Verkrampft hielt er sich an ihrer Hand fest und schob sich möglichst unauffällig zwischen sie und seinen Cousin. Trotzdem blieben sie noch ein paar Minuten schweigend am Grab stehen, bevor Fionn sich mit einer weiteren Umarmung von Heiðar verabschiedete. Rúna wurde lediglich mit einem höflichen Nicken bedacht, bevor Fionn sich von ihnen abwandte und mit langen Schritten den Friedhof verliess. Nach einem letzten Blick und letzten Worten am offenen Grab machten sie sich mit bleischweren Herzen auf den Heimweg.
Kurz nachdem Rúna und Heiðar den Friedhof verlassen hatten, kehrte Fionn zurück und trat nochmals ans Grab. In der Hand hielt er eine rote Rose und einen Umschlag aus edlem Pergament. Um den Umschlag war ein silbernes Band geschlungen. Auf dem Papier in dem Umschlag standen bloss einige Worte. Sie waren mit schwarzer Tinte in gälischer Sprache geschrieben: „Mein Herz, meine Liebe. Für immer.“ Worte, die seine ganze, niemals endende Liebe ausdrückten. Fionn liess erst die Rose ins Grab fallen, dann den Umschlag mit dem silbernen Band. Zum Abschied weinte er eine silberne Träne. Sie floss langsam über seine kalte Wange und übers Kinn. Dort löste sie sich und fiel zu den Rosen hinab. Ein schimmernder Tropfen auf dem matten Holz ihres Sarges.
Er war zurückgekehrt, um seiner Gefährtin einen letzten Dienst zu erweisen. Dank eines eindringlichen Blickes hatte er dafür gesorgt, dass man ihm dies gewährte. Er griff zur Schaufel, die etwas abseits bereit lag, und
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