Silbernes Band (German Edition)
die Worte schon beim ersten Mal erfasst hatte und nie wieder vergessen würde. „Du hast sie getötet, ich habe es bereits vermutet.“ Fionn hielt seinem Blick stand. „Es war das Schwerste, das ich jemals tun musste. Ich wünschte, sie hätte mich nicht darum gebeten. Es tut mir unendlich leid.“ Heiðar sah denselben Schmerz in seinen Augen, den auch er empfand. „War dieser Besuch gestern bloss eine Inszenierung, um mich glücklich zu machen?“ – „Es war meine Bedingung. Du solltest mit eigenen Augen sehen, dass wir uns lieben. Du darfst nicht denken, dass Kristín dir etwas vorgespielt hat. Ihre Gefühle waren echt, es war jene Seite ihrer Persönlichkeit, die sie seit Jahren verbarg.“
Heiðar wischte sich über die Augen. „Dann trug sie also immer diese Maske. Ich verstehe das nicht!“ – „Unsere Welten waren unvereinbar. Versuch es zu akzeptieren.“ Heiðar schlug sich die Hände vors Gesicht. „Sie hätte nicht sterben müssen!“ – „Verzeih mir, dass ich dir die Mutter genommen habe, statt sie für dich zu retten. Ich kann verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst.“ Heiðar schüttelte langsam den Kopf. „Nein, nicht du hast mir die Mutter genommen, es war diese Krankheit. Du hast bloss ihr Leiden verkürzt. Ich hätte das nie tun können, deshalb hat sie dich darum gebeten. Ich weiss, dass du sie immer lieben wirst, so wie ich Rúna immer lieben werde. Bitte bleib, ich brauche dich jetzt.“ Fionn trat näher und zog seinen Sohn in die Arme. Sie trauerten gemeinsam.
Fionn blieb bei ihm, bis es Zeit war Rúna abzuholen. Sie umarmten einander zum Abschied, dann verschwand Fionn mit unbekanntem Ziel. Heiðar ging zur Buchhandlung und wartete am Personaleingang, bis Rúna herauskam. Sie schlossen sich schweigend in die Arme und gingen engumschlungen nach Hause. Machten sich ein paar Sandwiches, die sie bloss assen, um gegessen zu haben. Rúna kochte Tee, den sie im Wohnzimmer trinken wollten.
Heiðar holte im Arbeitszimmer ein Fotoalbum. Er hatte das Bedürfnis, seine Kindheitserinnerungen mit ihr zu teilen. Sie setzten sich aufs Sofa, und er klappte das Album auf. Rúna betrachtete gerührt die Bilder, die ein unheimlich süsses Baby zeigten, das der Fotografin sein entzückendes Lachen schenkte. Dieses Lachen war auf vielen weiteren Fotos zu finden. Heiðar begann sie mit leiser Stimme zu kommentieren: „Erinnerst du dich, als Kristín von unseren Ausflügen erzählte?“ Rúna erkannte den Graben in der Allmannagjá in Þingvellir. “Ich wollte unbedingt ins Wasser springen, weil es so klar war und so schön funkelte. Sie hatte alle Hände voll zu tun, um mich daran zu hindern.” Rúna erwiderte sein leises Lächeln.
“Siehst du? Wir waren oft an der Þjórsá, haben an derselben Stelle gerastet.” Es gab kein Foto, auf dem die Sonne schien. Obwohl Island nicht gerade als Sonneninsel bekannt war, fand Rúna es seltsam. Nutzte man nicht schönes Wetter für Ausflüge und um Fotos zu machen?
Der hübsche Junge auf den Bildern wurde älter, das unwiderstehliche Lachen war immer seltener zu sehen. Teenager hassten es, von ihren Eltern fototgrafiert zu werden, deshalb gab es kaum noch Aufnahmen. Noch einige wenige, als Heiðar bereits ein junger Mann war. Das Lachen war auf die Fotos zurückgekehrt. Da waren auch ein paar Bilder von Kristín. Er strich zärtlich mit dem Finger darüber und weinte stumme Tränen. “Sie war unheimlich sanft und liebevoll. Wir hatten nicht viel Geld, aber sie legte mir immer wieder kleine Aufmerksamkeiten ins Zimmer. Bücher oder Buntstifte und kleine Spielzeugautos. Hinterher hat sie sich geärgert, wenn überall meine Sachen verstreut waren. Sie war unheimlich ordentlich, hat mich ständig damit gegängelt, leider ohne Erfolg. Dann konnte sie wütend werden, wie ein Vulkan.”
Sie würde niemals wieder ausbrechen. Heiðar schluchzte auf und barg sein Gesicht an Rúnas Schulter. Ihre Nähe tat ihm wohl und quälte ihn gleichzeitig. Der Durst wurde immer stärker, das Geheimnis immer drückender. Er wünschte sich, ihr alles erzählen zu können. Wer sein Vater war, wie Kristín wirklich gestorben war. Das Geheimnis sollte nicht länger zwischen ihnen stehen. Doch jetzt hatte er nicht die Kraft, es ihr zu sagen, dies war der falsche Moment. Er fühlte eine seltsame Erschöpfung, ein Zustand, den er nicht kannte. Sie legten sich hin, hielten sich aneinander fest und weinten gemeinsam. Er schickte Rúna in
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