Silbernes Mondlicht, das dich streichelt
Sie war allein, und wenn sie am
Leben bleiben wollte, mußte sie handeln, und zwar schnell.
Sie entfernte die Preisschilder von
den neuen Kleidern und zog sich hastig an. Dann ging sie ans Telefon und wählte
die New Yorker Auskunft.
Zehn Minuten später sprach Neely mit
jemandem aus Melody Lings Redaktion. Miss Ling sei noch unterwegs, wurde ihr gesagt,
und es würde unmöglich sein, sie vor dem Morgen zu erreichen.
Enttäuscht knallte Neely den Hörer
auf die Gabel, schnappte sich ihre wenigen Sachen und lief zu ihrem Wagen
hinaus.
Sie versuchte noch zweimal, Miss
Ling zu erreichen, am folgenden Morgen und am Morgen darauf, doch beide Male
hatte sie kein Glück. Schließlich erreichte sie mitten in einem Schneesturm
den winzigen Ort Timber Cove an der winterlich grauen Küste von Maine. Wendy
Brownings Ferienhaus lag fünf Meilen weiter nördlich, und dort suchte Neely,
nachdem sie rasch einige Vorräte eingekauft hatte, Zuflucht.
Der Haustürschlüssel lag wie immer
unter dem Gartentisch auf der verschneiten Terrasse. Neely war schon oft zu
Gast gewesen in diesem kleinen Haus, und bevor Wendy nach London geflogen war,
hatte sie ihr gesagt, daß sie jederzeit das Haus benutzen konnte.
Sie schloß auf, trat ein und stellte
die Gasheizung an. Dann hob sie den Telefonhörer auf und stellte erleichterte
fest, daß das Freizeichen erklang.
Neely brachte ihre Einkäufe ins
Haus, stellte Wasser für Kaffee auf, und blieb dann vor den gläsernen
Terrassentüren stehen, um in die bergige, verschneite Landschaft hinauszuschauen.
Als sie Kaffee getrunken und sich
etwas aufgewärmt hatte, zog sie ihren Mantel an und ging hinaus zum
Holzschuppen. Dort kniete sie in einer Ecke nieder und hob eine lose Fußbodendiele
auf.
Darunter lag ein dicker, in Plastik
eingewickelter Umschlag, noch genauso, wie Neely ihn hinterlassen hatte.
Sie trug das Päckchen ins Haus
zurück, öffnete es und sah, daß alle Dokumente und Papiere noch vorhanden
waren. Neely ging zum Telefon und wählte Melody Lings Nummer. Diesmal hatte sie
Glück.
Aidan fand Maeve ohne Schwierigkeiten.
Sie war in ihrem Haus in London, in ihrem geliebten neunzehnten Jahrhundert.
Eine Schar von Gästen bevölkerte ihren Salon, ein Streichquartett spielte
Mozart. Einige der elegant gekleideten Gäste tranken Champagner und bedienten
sich von den reichlich vorhandenen Hors d'oeuvres, während andere nur so
taten.
Es war eine interessante Mischung
aus Vampiren und Menschen, die meisten von ihnen gelangweilte Schriftsteller
und Künstler, die vermutlich sehr gut wußten, daß sie Umgang mit Vampiren
pflegten. Aidans Erfahrung nach fanden gerade diese Typen derartige Dinge
ungeheuer aufregend.
»Liebling!« Maeve, in einem
schimmernden roten Satinkleid, schwebte auf ihn zu und streckte beide Hände
nach ihm aus. Ihre dunkelblauen Augen leuchteten vor Freude, doch als sie
Aidans Miene sah, wirkte sie besorgt. »Was für eine wundervolle Überraschung ...
Aidan?«
Er küßte ihre Wange und lächelte,
aber das war auch schon alles, was er tat, um sich den Anschein von Normalität
zu geben. Er hatte seit drei Tagen nicht gejagt, aus lauter Trauer über die
Trennung von Neely, und war nun so geschwächt, daß er sich am Rande einer
Ohnmacht befand.
Maeve runzelte die Stirn, sie hielt
noch immer seine Hände, und er spürte, wie etwas von ihrer überquellenden Kraft
auf ihn überging. Sie zog ihn durch die seltsame Gruppe ihrer Gäste und führte
ihn auf eine steinerne Terrasse mit hoher Eisenbrüstung hinaus. Der Wind war
beißend kalt.
»Was ist geschehen?« fragte Maeve.
»Also wirklich, Aidan, wenn es etwas mit dieser verfluchten Frau zu tun hat ...«
Er schaute seiner wütenden Schwester
offen in die Augen. »Es hat alles mit ihr zu tun«, sagte er. »Ich liebe sie.
Ich würde lieber sterben, als sie zu verlieren, und ich würde meine Seele
verkau fen, wenn ich eine besäße, um als Mann mit ihr leben zu können.«
Maeves Gesicht verhärtete sich, und
für einen Moment war ihr Zorn fast spürbar. Aber dann legte sie die Stirn an
Aidans Schulter und begann zu weinen.
Aidan hielt sie sanft umfangen. »Es
tut mir leid«, flüsterte er rauh.
Nach einer langen Zeit schaute sie
zu ihm auf, ihre schönen Augen schimmerten von Tränen. Es brach Aidan fast das
Herz, seine Schwester in einem solchen Zustand zu erleben.
»Es gibt also nichts, was dich von
deinem Kurs abbringen könnte?« fragte Maeve. »Du wirst entweder Erfolg haben
bei deinem lächerlichen Plan oder
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