Silbernes Mondlicht, das dich streichelt
und ihren
Mantel ausgezogen hatte, erinnerte sie sich daran, abzuschließen und den
Riegel vorzuschieben.
Ihr Telefon, ein schlichtes
schwarzes Modell mit altmodischer Drehscheibe, erschreckte sie mit einem
lauten Klingeln. Von einer merkwürdigen Erregung erfaßt, ergriff sie den Hörer.
»Verdammt, Neely«, sagte ihr Bruder,
»ich habe dir gesagt, daß du mich rufen sollst, wenn du das Café schließt! Hast
du die Zeitungen nicht gelesen? Es ist gefährlich für eine Frau, so spät am
Abend allein draußen zu sein.«
Neely nahm Ben die barschen Worte
nicht übel, sie wußte, daß er sich um sie sorgte. Wahrscheinlich war er außer
Danny und Wendy Browning, ihrer besten Freundin, der einzige Mensch auf dieser
Welt, dem etwas an ihr lag.
»Entschuldige, Ben«, erwiderte sie,
streifte ihre Stiefel ab und betrachtete stirnrunzelnd eine Laufmasche in ihrer
Strumpfhose. Diese hier würde weder mit Haarspray noch mit Nagellack zu
stoppen sein. »Ich weiß, daß es spät ist, deshalb habe ich nicht angerufen. Ich
wußte, daß Danny schon im Bett sein würde, und wollte nicht, daß du ihn allein
läßt.« Sie machte eine kurze Pause, dann fragte sie: »Was weißt du über Aidan
Tremayne, den Mann, der in dem alten Herrenhaus etwas weiter unten an der
Straße wohnt?«
Ben klang müde. »Nur daß er Aidan
Tremayne heißt und in der alten Villa wohnt. Aber warum fragst du?«
Neely war merkwürdig enttäuscht.
»Ach, nur so. Danny und ich waren gestern auf unserer Halloweenrunde bei ihm.
Er erschien mir irgendwie ... anders.«
»Ich glaube, er ist eine Art
Einsiedler«, entgegnete Ben und gab sich keine Mühe, sein Desinteresse zu
verbergen. »Hör zu, Neely, ich bin todmüde ... Wir sehen uns morgen, Liebes.«
Ein warmes Gefühl für ihren Bruder
erfaßte Neely. Sie und Ben hatten viel mehr gemeinsam als ihre toten Eltern.
Seine Frau Shannon war vor einigen Jahren an Krebs gestorben, und kurz nach
ihrem Tod hatte er auch noch seine Stellung in einem Pittsburgher Stahlwerk
verloren. Seither kämpfte er sehr hart, um ein neues Leben für sich und Danny
aufzubauen. Auch Neely hatte sich gezwungen gesehen, ihr altes Leben aufzugeben
— ihre Arbeit, ihre Wohnung, ihre Freunde —, weil sie zuviel über gewisse
mächtige Leute wußte.
»Gute Nacht«, sagte sie zärtlich.
Ihr Wohnwagen bestand aus einem
einzigen Raum mit einem Klappbett auf der einen Seite und einer Kochnische auf
der anderen. Das winzige Badezimmer war nicht viel größer als der Dielenschrank
in ihrer alten Wohnung.
Nachdem Neely geduscht und ihr Haar
getrocknet hatte, erhitzte sie eine Dose Gemüsesuppe und aß auf ihrem Bett,
während sie sich eine späte Talkshow im Fernsehen ansah.
An diesem Abend war Neely nicht
imstande, sich auf die Monologe des Gastgebers zu konzentrieren, obwohl sie ihn
sonst ausgesprochen unterhaltsam fand. Nein, heute dachte sie an Aidan Tremayne
und fragte sich, wer er sein mochte und warum sie so heftig auf ihn reagierte.
Er war einer der attraktivsten Männer, denen sie je begegnet war. Sie war noch
immer sehr erschüttert von der unerwarteten Begegnung mit ihm — ganz zu
schweigen von der Art und Weise, wie er verschwunden war ... als ob er sich in
Luft aufgelöst hätte!
An diesem Abend war Aidan ganz besonders hungrig, aber er
ging nicht auf die Jagd. Der Hunger schärfte seinen Verstand, und während er
allein in seiner luxuriösen Bibliothek saß, erlaubte er sich einen Rückblick
auf jene andere Zeit, als er noch ein Mann und kein Monster gewesen war.
Mit geschlossenen Augen ließ er
seine Gedanken in die Vergangenheit zurückschweifen. Wie den meisten
Sterblichen, war auch ihm nie bewußt gewesen, was es hieß, einen starken,
gleichmäßigen Herzschlag zu besitzen, kräftige Lungen, die nach Luft
verlangten, und Muskeln, die Befehle von einem lebendigen Gehirn
entgegennahmen. Damals, in jenen unkomplizierten Zeiten, hatte seine
Männlichkeit im Vordergrund gestanden, nicht sein Verstand.
Und heute war er eine leere Hülle,
eine Verirrung der Natur, Dank seines ungestümen Charakters, dank seiner
stetigen Suche nach Vergnügungen und dank Lisette war er heute ein Ungeheuer,
das nur durch die Aufnahme menschlichen Bluts fähig war zu existieren. Aidan
sehnte sich nach ewigem Frieden, aber er fürchtete zu sehr die Möglichkeit
eines Weiterlebens nach dem Tod, um freiwillig aus seiner Existenz zu scheiden.
Er lächelte traurig, als er
Jahrzehnte und dann Jahrhunderte in Gedanken vorüberziehen ließ. Er
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