Silberschwester - 14
Nacht!«,
rief sie nun im höchsten Tone, um den Lärm zu übertönen. »Überlasst sie eine
Nacht den Alten Einen … und wenn sie dann nichts Unseliges holt oder tötet,
wissen wir, dass sie von den Göttern geschützt und gesegnet sind!«
»Hört auf die
weise Frau!«, rief da jemand. »Eine Nacht …«, nahmen andere diesen Ruf auf.
»Das ist nur billig. Wenn die Kleinen am Morgen noch leben, wissen wir, dass
sie Menschen sind!«
So kurz vor Winteranfang ging der Wind
schon kalt. Doch Bera traute sich nicht, umzudrehen, sich einen wärmeren Umhang
zu holen. Sie bemühte sich, sosehr sie auf diesem Stoppelfeld auch rutschte und
trotz ihrer kürzeren Beine, mit der weit ausgreifenden Borglind Schritt zu
halten. Der Grabhügel hob sich riesig und fahl gegen den dunkleren Waldrand ab.
Wo die Steine durch den Rasen drangen, war gähnende Schwärze – der Eingang zum
Grab. Für einen Augenblick war ihr, als ob ein Licht darüber blinke. Sie
blinzelte, nun sah sie es wieder: Das Hauga-Eldrinn, jenes gespenstische
Flämmchen, das über verborgenen Schätzen flackert. Aber derlei Flammen wärmten
ja leider nicht.
Lass sie die
Kleinen wenigstens im Schutz der Steine ablegen, betete Bera, die hier alles
Übernatürliche weniger fürchtete als die Kälte, und seufzte erleichtert, als
die Ältere sich bückte und den Korb in den Eingang schob. Daraus drang ein
dünnes Geschrei, das in der kalten Nachtluft klar zu hören war. O Freyr und
Freya, als Zwillinge geboren und zweimal heilig, flehte Bera da, beschützt sie!
Borglind
richtete sich auf, schickte sich an zu gehen, hielt dann aber inne, als sie Bera
noch warten sah.
»Geh zurück.
Du hast kein Recht, dich einzumischen.«
»Ich habe
diese Kinder in die Welt gebracht. Du kannst mich morgen früh aus der Tür
weisen, aber diese Nacht bleibe ich bei dir, um dich an dein Versprechen zu
binden.«
»Du wagst es
…« hob Borglind an, aber Bera schnitt ihr beredt das Wort ab:
»Lass mich
Zeugin sein, damit ich um deiner Ehre willen dann Zeugnis gebe. Es werden
deinem Gemahl bei seiner Rückkehr ja viele vom Werk dieser Nacht berichten.«
Das machte Borglind, wie erhofft, nachdenklich. Also fuhr Bera fort: »Die
Götter werden über das Los dieser Kinder entscheiden.«
»Gut denn«,
gab Borglind sich plötzlich geschlagen. »Dort am Rand des Feldes ist ein
Schuppen. Da können wir warten.«
Bera hatte gehofft, bei ihrer langen
Nachtwache Gelegenheit zu finden, Borglind umzustimmen. Die setzte aber eine so
abweisende Miene auf, dass Bera nicht einmal den Mut fand, sie anzusprechen. Im
Windschutz der Hütte war es aber zu ihrer Erleichterung nicht mehr annähernd so
kalt. Sie hatte keine Ahnung, was Borglind durch den Kopf ging, aber ihre
eigenen Hoffnungen hinderten sie nicht daran, diese Zeit im stummen Gebet zu
verbringen. Sie hatte ja immer die Götter verehrt, sich aber vor allem während
der Arbeit bei der Völva an sie gewandt. Dass sie sich etwas heiß genug
wünschte, um sich in eigener Sache an sie zu wenden, war lange her. Aber,
dachte sie, sie sollte sich nicht nur an die Götter, sondern auch an die Alfs
des Grabes und an den Disir wenden, der Halvors Sippe von alters her beschützte.
Hin und wieder
spähte sie angestrengt nach dem Hügel – aber außer den Sternen, deren Gang ihr
das Verstreichen der Zeit anzeigte, bewegte sich nichts. So langsam wurden ihre
Gebete nun weniger verzweifelt, und mit dem Ruhigerwerden wurde sie auch
offener, um, wenn nicht Antwort, so doch einen gewissen Frieden zu finden … Zu
viel davon, vielleicht, sank sie doch in der grauen Stunde vor dem Morgen in
Schlaf.
Es war kein
Geräusch, sondern das Fehlen eines solchen, was sie aus dem Traum von weiß
gewandeten Frauen weckte, die um den Grabhügel tanzten – das gleichmäßige
Atemgeräusch ihrer Begleiterin war nicht mehr zu hören. Borglind war fort, aber
der Boden, auf dem sie gehockt, noch lauwarm. Bera rieb sich die Augen – und
sah eine gespenstische Gestalt durch die am feuchten Feld klebenden Nebel
huschen. Sie sprang mit einem halblauten Fluch auf und stolperte hinter ihr
her.
Da sah sie
Borglind am Eingang zum Hügel stehen bleiben, hörte ein dünnes Geschrei und
sah, wie die ältere Frau sich mit ihrem weiten Umhang zu schaffen machte. Um
die Kleinen zuzudecken? Nein, um sie zu ersticken!
Bera schrie
laut auf vor Furcht und Wut, rannte los wie eine kleine, zornige Bärin … Aber
da sie auf Borglind einsprang, wich die zur Seite. Bera bekam sie am Arm
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