Silberstern Sternentänzers Sohn 02 - Gefährliche Traeume
verzeih uns“, hatte sie mit tränenerstickter Stimme gefleht. „Wir dachten, dass es so das Beste sei. Und du hast dich doch auch so wohlgefühlt bei uns ...“
Annit war damals verletzt und wütend gleichzeitig gewesen. „Meine Eltern haben mich einfach im Stich gelassen und sich aus dem Staub gemacht“, hatte sie geschrien. „Und ihr habt mich angelogen.“ Schweigen hatte geherrscht. Eisiges, bedrückendes Schweigen. Erst allmählich hatte Annit sich wieder mit ihren Adoptiv eltern aussöhnen können. Sie hatte gemerkt, dass die beiden genauso litten wie sie selbst.
Abrupt stand Annit auf. Sie fühlte sich wie ausgehöhlt.
Nachdenklich sah Mannito sie an. „Du hast sie also nie gesehen, deine Eltern? Nicht einmal ein Bild von ihnen hast du?“
Annit schüttelte den Kopf. „Ich hab gar nichts von ihnen. Nur diese Bibel.“
„Und wo ist die Bibel?“, wollte Mannito wissen. „Hast du sie mitgenommen?“
Annit nickte. „Ich hab sie ganz unten in meinem Rucksack versteckt. Bis jetzt hab ich es noch nicht geschafft, sie herauszuholen.“ Sie schluckte. „Aber nach allem, was hier um den Natari-Park passiert ist, hab ich gemerkt, dass jedes Lebewesen eine Heimat braucht.“ Nur kann ich meine Heimat erst wieder genießen, wenn ich weiß, woher ich komme, fügte sie im Stillen hinzu. Sonst werde ich diese Unruhe in mir niemals loswerden!
„Und? Wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Mannito. „Hast du schon einen Plan? Willst du deine Eltern suchen?“
Annit wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel und musste ein bisschen lachen. „Viele Fragen auf einmal. Vor allem solche, die ich nicht beantworten kann. Wie kann ich irgendwo hingehen, wenn ich nicht mal genau weiß, woher ich komme?“
Doch sie spürten beide in diesem Augenblick, dass Annit weiterwollte, weitermusste, um endlich eine Antwort auf all diese Fragen zu finden.
Zeit des Abschieds
Die folgende Zeit wurde für Annit und Mannito zu einer Zeit des Abschieds, ohne dass die beiden es so richtig merkten. Sie genossen noch einmal in vollen Zügen ihre Freiheit und nahmen alles sehr bewusst wahr, was sich ihnen bot.
Wieder einmal ritten sie gemeinsam in der Umgebung von Kischila aus. Es war ein wundervoller Sommertag, wie Annit ihn bisher so nur hier in den Karpaten erlebt hatte. Rings um sie herum grüne, saftige Wiesen, umsäumt von dunklen Bäumen. Die Nachmittagssonne tauchte die Landschaft in ein ganz eigenes Licht.
Solche Tage sind viel zu schön, ich kann nicht wirklich von hier weggehen, dachte Annit, während sie versonnen zum Himmel schaute. Das strahlende Blau wurde nur von ein paar Wolken unterbrochen, die federleicht dahinzuschweben schienen.
Annits Wangen waren gerötet, und die blauen Augen funkelten, als sie den Hengst auf einem geraden Wegstück zum Galopp antrieb. Eine leichte Bewegung mit den Schenkeln reichte schon aus, damit das aufmerksame Tier seine Gangart beschleunigte. Der weiche Boden unter den stampfenden Hufen war noch feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Aber Silberstern lief ruhig, mit wunderbar harmonischen Bewegungen.
„Los, Mannito, auf geht’s!“, rief Annit und jauchzte vor Freude.
Augenblicklich trieb Mannito seine Ranja an, hielt aber immer ein paar Meter Abstand zu Silberstern.
Nach einer Weile zügelten die beiden ihre Pferde und folgten im Schritttempo einem Forstweg, der talwärts führte.
„Bist du sicher, dass du wirklich gehen willst?“, fragte Mannito plötzlich. „Pelikan würde dich vermissen.“
„Ja, gerade der“, gab Annit zurück und grinste. Doch mit der Antwort auf Mannitos Frage zögerte sie. Wehmütig ließ sie ihren Blick über die hügelige Landschaft schweifen, die im Hintergrund von schroffen felsigen Bergen überragt wurde.
Beim Reiten auf Silberstern kann ich hier zwar alles vergessen, und ich fühle mich so frei wie nie sonst. Die Landschaft fliegt vorüber, der Wind rauscht in den Ohren. Doch fühle ich mich hier wirklich aufgehoben? Sie tätschelte Silbersterns Hals. Er war nass vom Schweiß. Der Hengst legte den Kopf zurück und wieherte. Es klang fast wie eine Aufmunterung, zu dem zu stehen, was sie tatsächlich wollte:
ihre richtigen Eltern finden.
Annit versank erneut in Gedanken. Die vielen Leute, die ich hier inzwischen kenne, der Natari-Park, meine Arbeit dort, die Bären, die Wölfe, all die anderen Tiere, die herrliche Landschaft - wird mir all das fehlen?
Sie dachte noch
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