Silberstern Sternentaenzers Sohn 06 - Annit und der Geschichtenerzaehler
überlegt, einen Tierarzt aus Damaskus kommen zu lassen.
„Das dauert Tage, bis der hier bei uns im Dorf eintrifft“, murmelte Alisha besorgt. „Das ist viel zu lange. Bis dahin kann sich die ganze Herde anstecken.“
„Aber der kann dann wenigstens genau feststellen, was die Schafe haben“, meinte Annit pragmatisch. „Und er bringt auch Medizin mit und kann die Tiere behandeln.“
Liebevoll strich Alisha einem Lämmchen über den weichen Kopf „Hoffentlich“, murmelte sie.
Mitleidig betrachtete Annit das Beduinenmädchen. Sie wusste, wie viele Sorgen sich Alisha machte und welche Ängste sie plagten. Doch plötzlich spürte sie etwas. Etwas Merkwürdiges. Annit hielt inne und blickte auf. Sie hatte auf einmal ein ganz eigenartiges Gefühl. Die Art von Gefühl, die man hat, wenn man niemanden sieht, a ber dennoch die Anwesenheit von jemandem spürt. W enn man fühlt, dass gerade etwas geschieht, es aber n och nicht zuordnen kann.
Annit wandte den Kopf. Um das Gehege des Schafstalls w aren ein paar Beduinen versammelt, die sich um die S chafe sorgten. Nichts Ungewöhnliches in diesen Tagen.
Komisch!, dachte sie und fröstelte mit einem Mal ein w enig trotz der Sonne. Sie schaute noch einmal suchend um her, und plötzlich fiel ihr Blick auf einen Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte ein schwarzes Tuch um seinen Kopf gehüllt, das nicht viel von seinem Gesicht freigab. Nur seine dunklen Augen und seine schwarzen Augenbrauen waren zu erkennen.
„Wer ist denn das?“, fragte Annit.
Alisha blickte auf. „Wer?“
Annit deutete zu der Stelle, wo der Mann gestanden hatte. Aber er war nicht mehr da. „Vergiss es“, murmelte Annit.
Am Abend kamen Annit und Alisha am Zelt des Stammesfürsten vorbei. Dabei fiel Annits Blick auf eine merkwürdige Männerrunde vor dem Zelt, oder besser im Zelt - denn das Dach war zurückgeschlagen, sodass sich der vordere Bereich des Zeltes unter freiem Himmel befand. Im Halbkreis saßen dort ein Dutzend ältere Männer um ein Lagerfeuer. Sie hatten die Augen geschlossen, ihre Handflächen hielten sie nach oben gestreckt. In der Mitte des Halbkreises hockte der Heiler, ein alter Mann mit einem weißen Bart, der eine Art Sprechgesang anstimmte, in den die anderen dann einfielen.
„Was machen die denn da?“, wollte Annit wissen.
„Komm mit!“ Alisha dirigierte sie unwirsch zurück in ihr Zelt. „Das ist nichts für Frauen.“
Annit starrte weiter so fasziniert in die Runde, dass sie beinahe gestolpert wäre.
„Pass auf!“, ermahnte Alisha sie streng.
„Was machen die da?“, bohrte Annit im Zelt erneut nach. „Sag schon!“
„Sie beten mit dem Heiler fiir die Schafe“, erklärte Alisha knapp.
„Und das hilft?“, fragte Annit ungläubig.
„Allahs Wille wird geschehen!“ Damit war für Alisha das Thema beendet. Sie griff nach ein paar Pfefferminzblättern und widmete ihre volle Aufmerksamkeit der Zubereitung des Tees.
Annit aber war neugierig und schlüpfte aus dem Zelt. Inzwischen hatte es schon begonnen zu dämmern.
Die Beduinen saßen wie zuvor im Halbkreis. Aber sie waren nicht mehr allein. Ein in ein tiefschwarzes Gewand gekleideter Mann hatte sich zu ihnen gesellt und saß nun im Schneidersitz in ihrer Mitte. Ein ebenfalls schwarzes
Tuch verhüllte sein ganzes Gesicht, nur seine Augen waren zu sehen.
„ Das ist er!“, murmelte Annit - und wieder spürte sie dieses merkwürdige Gefühl wie bereits am Nachmittag. Im Schutz der Zelte näherte sie sich der Männerrunde, huschte um das Zelt des Stammesfürsten herum, sodass ihr die Beduinen den Rücken zudrehten, und kniete sich dort in den Sand. Der in Schwarz gehüllte Mann sprach, die anderen hörten ihm zu, hingen geradezu an seinen Lippen. Annit verstand kein Wort, doch sie spürte die geheimnisvolle Ausstrahlung des Mannes. Einmal hob er seinen Kopf. Und Annit hatte das eigenartige Gefühl, als würde er sie ansehen - obwohl das in der Dunkelheit eigentlich gar nicht möglich war, denn sie war weit weg von jeglichem Feuerschein.
Auf einmal spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Annit erschreckte sich so, dass ihr Herz für ein paar Sekunden aufhörte zu schlagen.
„Da bist du!“ Mannito kniete sich neben sie. Im Schlepptau hatte er wie meistens Yussuf.
„Mann, hast du mich erschreckt, Mannito!“, raunte Annit zurück.
„Was machst du eigentlich hier?“, fragte
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