Silbertod
»Cella Moribundi« zurückgelassen hatten. Kann man sich vorstellen, wie mir zumute war, als ich sie erkannte? Ich hätte doch platzen müssen vor Wut. Stattdessen wurde ich beim Einatmen des Wohlgeruchs friedlich und ruhig, um zum zweiten Mal Zeuge einer unglaublichen Vorstellung zu werden – hellwach dieses Mal und in aufrechter Stellung. Folgendes habe ich gesehen:
Nachdem sich Mr Pantagus vorgestellt hatte, kehrte er ans Kopfende des Sarges zurück.
»Ihr guten Leute«, sagte er, »Knochenmagier kann mannicht werden, als Knochenmagier wird man geboren. Ich habe die Fähigkeit, mit Toten in Kontakt zu treten, von einer langen Ahnenreihe von Magiern geerbt. Ich von meinem Vater, er von seinem und dieser wiederum von seinem. Und so durch die Jahrhunderte zurück bis in graue Vorzeit. Mag sein, dass die Welt durch den Aufstieg von Philosophie und Wissenschaft heute anders ist als früher, doch ich versichere Euch, es gibt auch in unserer Zeit noch Platz für jene, die Tote ins Leben zurückrufen können.«
An dieser Stelle gab es zustimmendes Raunen in der Menge. Mr Pantagus deutete auf den Sarg.
»Ich bin ein privilegierter Mann. Man hat mir die Betreuung dieses Sarges überantwortet, in dem das Skelett einer gewissen Madame Celestine de Bona ruht. Während ich die Zeremonie abhalten werde, die sie ins Leben zurückbringen soll, bitte ich nun um äußerste Ruhe.«
Juno, die, wie ich inzwischen wusste, die zweite Person war, löschte alle Kerzen an den Wänden. Damit bestand die einzige verbleibende Lichtquelle aus vier dicken Bienenwachskerzen, die auf hohen Eisenständern in den Ecken des Podiums brannten. Mr Pantagus entfernte den Sargdeckel und legte ihn zur Seite. Dann löste er etliche innere Verriegelungen und klappte die Seitenwände herunter, sodass sie flach auf dem Tisch lagen und der schauerliche Inhalt der Kiste zu sehen war.
Ein Raunen ging durch den Saal und wir beugten uns alle gleichzeitig vor. Stärker als unsere Furcht war die Neugier auf das, was auf dem Podium zu sehen war. Denn dort, vor denAugen der ehrfürchtigen Menge, lagen die ausgetrockneten braunen Knochen von Madame de Bona.
Überwältigt von unterschiedlichsten Gefühlen und mit vor Staunen offenem Mund sah ich zu, wie Benedict Pantagus nun etliche Gesten und Bewegungen machte, die ich sofort als haargenau die gleichen erkannte, die ich erst vor so kurzer Zeit in der »Cella Moribundi« gesehen hatte. Und wieder roch ich Zimt und Myrrhe, Anis und Wermut, während ich mit wachsender Spannung auf das Unvermeidliche wartete.
Das Skelett begann sich zu regen.
Vom Schädel bis zu den Zehen lief ein Zittern durch die fleischlose Gestalt, dass die Knochen nur so klapperten. Der Unterkiefer hing ein wenig herab, und aus dem grinsenden Mund kam ein Stöhnen, wie man es sich höchstens in Albträumen vorstellen kann, ein Laut wie aus einer anderen Welt. Die Leute schnappten nach Luft und wichen vor dem gespenstischen Wesen zurück. Aus dem Hintergrund des Raums kam ein schriller Schrei und eine junge Frau brach zusammen. Man ließ sie einfach auf dem Boden liegen, so sehr waren die Leute fasziniert.
Wenn das Skelett, wie Mr Pantagus behauptet hatte, eine Frau gewesen war, so deutete kaum mehr etwas darauf hin, höchstens vielleicht für das Auge eines Fachmanns. Langsam, wie ein Schiff auf einem Wellenkamm erscheint, hob sich ihr Oberkörper aus dem Sarg, bis sie endlich kerzengerade saß. Mit den Händen stützte sie sich auf den hinuntergeklappten Sargwänden ab, sodass ihre langen Knochenfinger gegen dasHolz klickerten. Schließlich öffnete sie weit den Mund wie zu einem Gähnen, und ich sah, dass sie ein erstaunlich volles Gebiss hatte.
Mr Pantagus konnte unserer ungeteilten Aufmerksamkeit gewiss sein, als nun in der gespannten Atmosphäre seine tiefe klangvolle Stimme ertönte.
»Meine Damen und Herren, ich darf Euch die wiederbelebten Gebeine von Madame Celestine de Bona präsentieren!«
Wir nahmen diese Ankündigung als Stichwort zum Applaudieren, und das taten wir lautstark und mit unverhüllter Begeisterung. Mr Pantagus’ Bart zuckte, und ich glaube, er hat ein bisschen gelächelt.
»Vielen Dank«, sagte er freundlich und machte eine kleine Verbeugung. »Nun wollen wir rasch zu unserem eigentlichen Anliegen kommen. Madame de Bona, so lebendig und scheinbar bei guter Gesundheit, wird nicht lange bei uns bleiben. Wie Ihr wisst, ist für Euer Sixpencestück eine Frage erlaubt. Vielleicht möchtet Ihr etwas über das
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