Silence
ich bin keine Schauspielerin. Wir sollen einfach nur diese Szene vortragen, mehr nicht.«
»Etwas Engagement würde uns aber eine gute Zensur sichern.« Ermano zuckte mit den Augenbrauen.
»Als wären Zensuren alles«, murmelte ich trotzig. Irgendwie stand mir der Sinn gar nicht nach Shakespeare. Vielleicht fürchtete ich mich aber auch nur vor einem Auftritt vor einem Publikum, das mir den Spitznamen T odesfee verpasst hatte.
Ermano stand von der Decke auf, ging zum Bett und holte etwas aus seiner Tasche. »Hier. Ich war heute Nachmittag noch schnell bei der Theatergruppe und habe dir ein Kostüm besorgt.«
Er hielt ein Kleid aus tannengrünem Samt vor sich hin. Über der Brust hatte es eine aufwendige weiße Schnürung. Links und rechts verlief vom Kragen bis zur Taille ein Spitzenbesatz. Ich musste ein Keuchen unterdrücken, so schön war dieses Kleid. Bisher kannte ich solche Kleider nur aus dem Fernsehen.
»Und so was findet man bei uns in der Schule?«, fragte ich zweifelnd. »Steht dir übrigens wirklich gut.«
Ermano zuckte mit den Schultern und ignorierte mich. Wahrscheinlich hatte er beschlossen, das Beste aus unserer erzwungenen Partnerschaft zu machen. Er hängte das Kleid auf einem Bügel an den Himmel meines Bettes.
»Bedeutet das, du wirst in Strumpfhosen auftreten?«
Die Vorstellung, Ermano in Strumpfhosen zu sehen, amüsierte mich irgendwie und ich musste grinsen. Ermano überhörte meine Bemerkung wieder. Das war ja wie bei meinen Eltern. Schnaubend musste ich Giovanni recht geben. Ermano war eindeutig einer von diesen Typen. Absolut kein Humor.
Wir gingen die Szene mehrmals durch. Ermano korrigierte mich des Öfteren und nahm die Sache ziemlich ernst. Nach einer Stunde verlor ich die Geduld. »Lass uns Schluss machen. Ich mag nicht mehr.«
»Okay. Aber das heute war nicht unser letztes Treffen«, sagte er ermahnend.
Er nahm wieder vor dem Kamin Platz und starrte in das Flammenspiel. Das Feuer warf einen orangefarbenen Schein auf sein Gesicht und dunkle Schatten unter seine Wangenknochen, so dass diese noch viel markanter wirkten. Ich setzte mich neben ihn, die Knie bis an mein Kinn gezogen, und starrte auch in den Kamin.
»Danke«, murmelte ich. Wenigstens das war ich ihm wohl schuldig. Wenn er sich schon mit jemandem abmühte, den er nicht einmal mochte.
»Wofür?«
»Dafür. Für das Kleid, für alles eben.«
»Gern geschehen.«
Obwohl ich jetzt schon einige Zeit mit Ermano verbracht hatte, fühlte ich mich noch immer unbehaglich in seiner Nähe. Wahrscheinlich lag es nicht einmal an ihm, sondern an mir. Wenn von einer Person nicht zumindest ein kleines Zeichen von Zuneigung kam, dann hatte ich das Gefühl – oder auch die Angst -, dass sie mich nicht mochte. Und das verunsicherte mich. Bei meinen Mitschülern wusste ich, dass sie mich nicht mochten und bei ihnen akzeptierte ich es sogar. Aber bei Ermano störte es mich. Ich wollte, dass er mich mochte.
»Und? Wie gefällt es euch hier in Silence? Was hat euch hier hergetrieben?«, fragte ich nach einer Weile des Schweigens.
»Wahrscheinlich hatten unsere Eltern mal Lust auf ein Kleinstadtleben.« Ermano lächelte mich an und ich musste ein erleichtertes Seufzen unterdrücken. Wenigstens schon mal ein Lächeln. Wir machten Fortschritte.
»Was hat es auf sich mit dieser Stadt und Europa?«, fragte er und starrte wieder in das Flammenspiel.
»Die ersten Gründer waren Familien aus Italien, Deutschland und Frankreich. Die Nachfahren leben noch heute hier und ihre Traditionen mit ihnen. Es ist uns – also nicht mir, aber den meisten anderen – wichtig, die Erinnerungen an unsere Herkunft im Gedächtnis zu behalten«, leierte ich herunter, was uns unser Leben lang eingegeben wurde.
Ermano nickte nachdenklich.
»Dir ist es nicht wichtig?«,
»Nein, nicht wirklich.«
»Warum?«, fragte Ermano. Er blätterte in einer alten Zeitung, die er auf meinem Schreibtisch gefunden hatte.
»Hmm. Liegt wohl daran, dass mein Vater hier Bürgermeister ist und meine Mutter sich aufführt, als würde Silence ohne sie nicht existieren können.«
»Du bekommst also die doppelte Dosis Silence ab.« Das war eine Feststellung. »Und du hasst das Kleinstadtleben?«
»Nein, es ist in Ordnung«, sagte ich gleichgültig. So schlimm war es in Silence nicht. Ohne meine Probleme könnte es hier sogar schön sein. Könnte.
Ich knabberte an meiner Unterlippe und überlegte, wie ich das Gespräch auf Giovanni lenken konnte. Als hätte Ermano meine
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