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Silentium

Silentium

Titel: Silentium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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diesem Moment hat keiner der beiden mehr daran gedacht, daß ein Präfekt sie öffnen könnte, und sie fliegen beide in hohem Bogen bei der Kellertür und aus dem Internat hinaus. Weil wenn du heute mit einer Aufgabe betraut bist, dann verlierst du die Ängste, das ist sehr interessant.
    Gib dem Menschen eine schöne Herausforderung, an der er sich die Zähne ausbeißen kann, und schon verdunstet das Depressive wie ein Schweißtropfen in der Wüste Sahara, praktisch Fata Morgana. Bestes Beispiel der Franz und der Unterhauser! Da ist es jetzt gar nicht mehr ums eigentliche Tischfußballspielen gegangen, sondern nur noch reiner Idealismus, daß sie endlich die Ballblockade beseitigen.
    «Lang halte ich es nicht mehr aus», hat der Unterhauser geschnauft, und sein Kopf war fast so rot wie die Köpfe, die immerhin ein paar von seinen Männchen noch aufgehabt haben.
    «Ich glaub, ich spür was», hat es die Stimmbruchstimme vom Franz überschlagen, wie er schon mit dem halben Oberarm im Ballschlitz gesteckt ist. «Kipp ihn noch ein bißchen mehr!»
    «Ich kann’s nicht mehr halten», hat der Unterhauser gestöhnt.
    «Ich spür was!»
    «Ich halt es nicht mehr aus!»
    «Ich hab ihn!»
    Der Franz hat seinen Arm herausgezogen, und in dem Moment, wo er ihn heraußen gehabt hat, hat der Unterhauser den Tisch aus einem halben Meter Höhe einfach auf den Boden krachen lassen. Daß beide sicher waren, oben in der Dachkirche plötzlich totale Sonnenfinsternis, weil durch das Erdbeben das flüssige Kerzenwachs literweise auf den Glas-Plafond gespritzt ist.
    Aber oben hat niemand etwas gehört oder gespürt oder gesehen, das war nicht das Problem.
    «Grüß Gott», hat der Franz überrascht gesagt.
    Das war das Problem. Der Franz war ein gesunder Bauernbub wie aus dem Bilderbuch, das war ja der kirchlichen Führung so wichtig, daß sie das frische Landblut für ihren Nachwuchs kriegen, wo das Stadtgift in der Erbmasse seit Adam und Eva noch nichts verbrochen hat. Und der Franz nervliches Paradebeispiel. Den hat nichts aus der Fassung bringen können. Seine Augen vielleicht jetzt schon ein bißchen bunter als normal, aber sonst absolut gefaßt. Und er hat noch ein zweites Mal schön gegrüßt.
    «Grüß Gott!»
    Vielleicht ist seine Ruhe auch nicht so sehr von der ländlichen Abstammung gekommen, da soll man nicht zuviel hineingeheimnissen. Vielleicht war es doch schon mehr der Schock. Der Franz hat jetzt auch ein bißchen komisch gelacht, was sonst nicht so seine Art war, die ganze Familie mehr auf der sturen Seite, weil wieder Gene: Ein Bauer lacht nicht, und bei einem guten Bauern hat auch der Knecht nichts zu lachen. Jetzt warum beim Franz dieses verdächtige Lachen?
    Sagen wir einmal so. Er hat keinen Lappen in der Hand gehabt, er hat eine Hand in der Hand gehabt. Angefühlt hat sie sich natürlich schon ein bißchen wie ein Lappen. Das mußt du dir vorstellen wie einen Handschuh, nur ohne Handschuh und dafür mit Hand. Und diese Hand war es, die der Franz so höflich geschüttelt und gegrüßt hat.
    «Grüß Gott!» hat der Franz noch einmal zu der Hand gesagt und ist mit der Hand in der Hand die Kellerstiege hinauf. In den ersten Stock hinauf, in den zweiten Stock hinauf, immer schön freundlich die Hand geschüttelt, in den dritten Stock hinauf, und wie sich schließlich im Dachboden die automatische Kirchentür vor ihm geöffnet hat, ist ihm der Gesang seiner Mitschüler entgegengeschwappt:
    Maria, wir dich grüßen,
    o Maria hilf!
    Und fallen dir zu Füßen
    o Maria hilf!
    O Maria hilf uns all
    hier in diesem Jammertal.
    Er ist in die vollbesetzte Dachkirche hineingestolpert, und die zweihundert singenden Köpfe haben sich überrascht nach ihm umgedreht.
    «Grüß Gott!»
    Gesang natürlich sofort verstummt. Weil beim Anblick der abgehackten Hand in der Franz-Hand ist ein Silentium ausgebrochen, wie sie es im Marianum nicht einmal bei den dreitägigen Exerzitien zum Fest der Unbefleckten Empfängnis zusammengebracht haben, praktisch Totalsilentium. Ich muß sagen, es war der letzte Auftritt vom Franz im Marianum, weil er und der Unterhauser noch am selben Tag etwas ganz anderes in der Hand, und zwar das Entlassungszeugnis. Aber doch ein Abgang, um den ihn ein paar von seinen Kollegen fast ein bißchen beneidet haben.
    Da hätte man glauben können, der Franz ist an den Verstärker für die rhythmischen Beatmessen angeschlossen, so laut hat man ihn zum Altar schlurfen und immer wieder murmeln gehört: «Grüß Gott!»
    Und

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