Silentium
schon so ausgesehen wie Vollmond. Und es ist bestimmt nicht vom Wetter allein gekommen. Obwohl es schon ein bißchen gespenstisch war, wie der Föhnsturm über den Kapuzinerberg gefahren ist.
Und Föhn immer gefährlich für Kopfweh, da hätte der Brenner schon ein bißchen aufpassen sollen, daß ihm die Gedanken nicht zu wild durch den Kopf galoppieren, damit er es nicht am nächsten Tag büßen muß. Andererseits ist das ja gerade das Wesen der ganzen Sache, daß du dich in dem Moment schon nicht mehr in der Hand hast. Und nicht erst am nächsten Tag, wenn du endgültig mit dem Gefühl aufwachst, als hätte dir eine von diesen Ramm-Maschinen, die sonst beim Tiefbau die Eisenpfähle in den Boden jagen, den Kopf zwischen die Schultern hineingestopft wie das reinste Wasserballventil.
Jetzt hat er sich am Heimweg über den rauschenden Kapuzinerberg steif und fest eingebildet, daß der Monsignore Schorn seine Rede gar nicht für die Partygäste gehalten hat. Sondern ausschließlich für den Brenner, sprich letzte Warnung.
«Es ist mir eine besonders große Freude», hat der Monsignore Schorn seine Rede begonnen, «daß gerade die größten Künstler der Welt nicht auf die Ärmsten der Armen vergessen. Niemand weiß so gut und aus so tiefer eigener Erfahrung, daß die größten Werke des Menschen aus dem Verzicht entstehen. Nur der Dilettant greift wollüstig nach allem, was ihm in die Finger kommt. Zur Kunst aber findet ein Werk erst in der Selbstbeschränkung. So wie der Mensch erst zu wahrem Menschsein findet, wenn er begreift: Geben ist seliger als nehmen.»
Mein lieber Schwan, vor lauter Föhn und Mond und Kopfweh im Anmarsch hat der Brenner den Anfang der Rede noch fast wörtlich im Kopf gehabt. Den Rest der Ansprache hat er sich aber nur noch bruchstückhaft zusammenklauben können. Wenn er am Anfang der Party schon gewußt hätte, daß der Redner der Monsignore Schorn war, hätte er natürlich von vornherein besser aufgepaßt. Aber so eben nur bruchstückhaft. Und vielleicht hat er sich auch deshalb jetzt eingebildet, daß die Rede ihm gegolten hat, weil das Bruchstückhafte immer gefährlich, daß man es sich falsch zusammensetzt, und fertig ist der Verfolgungswahn.
Irgendwie ist der Monsignore Schorn in seiner Rede auf einmal auf den Vincent van Gogh gekommen. Da hat der Brenner wieder aufgepaßt, weil Vincent van Gogh guter Künstler, nur das Ohr hätte er sich nicht unbedingt abschneiden müssen. Weil dann hätte die Rede vom Monsignore Schorn nicht so lange gedauert.
Zuerst hat der Brenner angenommen, er redet gerade über diesen Maler, weil wahrscheinlich im Publikum viele Leute, die einen echten van Gogh im Schlafzimmer haben, und daß er ihnen mit dem Thema elegant ein bißchen die Spendierhosen öffnen will. Aber nein, der Monsignore hat auf ganz was anderes hinausgewollt. Er hat nämlich Gedanken darüber angestellt, daß es eine heikle Angelegenheit ist mit dem Verzicht und daß man es sogar übertreiben kann.
Weil immer wieder kritische Worte in der Öffentlichkeit gegen die Wohltätigkeitsparty, quasi die reichen Leute wollen sich ja nur von ihrem schlechten Gewissen loskaufen. Und da hat eben der Monsignore Schorn den ganz interessanten Gedanken gehabt, daß man es auch nicht übertreiben darf mit dem Verzichten. Und eben Kunstgeschichte gutes Beispiel, man soll sich nicht gleich das eigene Ohr abschneiden vor lauter Begeisterung, weil das nützt im Endeffekt auch niemandem etwas. Sondern selber gesund und tüchtig bleiben, um den anderen zu helfen, so ist es richtig.
Auf dem Heimweg hat der Brenner sich wieder gedacht, daß es wirklich eine recht interessante Rede war, weil nicht nur Moral, sondern auch Kunst. Und den Paul Getty hat der Monsignore Schorn auch noch erwähnt. Kennst du bestimmt, der amerikanische Millionärssohn, dem sie auch das Ohr abgeschnitten haben, weil die Entführer sich damals gesagt haben, irgendwie müssen wir ja beweisen, daß wir ihn haben.
Da hat der Monsignore Schorn die wildesten Vergleiche gemacht, und ich muß schon sagen: Vielleicht nehmen sie bei der Kirche doch einfach die besten Prediger als Bischöfe, daß das womöglich gar nicht so viel mit den heimlichen Hygiene-Informationen zu tun hat.
Erst beim Heimgehen ist dem Brenner aufgefallen, wie raffiniert der Schorn sein Thema gewählt hat. Auf einer Festspielparty vor unzähligen weltberühmten Musikern ausgerechnet über das Ohr reden, da muß ich schon ganz ehrlich sagen, nicht blöd. Er hat geredet
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